Der italienische Comiczeichner Igort arbeitete in den 1990er Jahren ausschließlich für japanische Verlage. Er lebte einige Jahre in Japan und reist seitdem immer wieder hin. Das Land fasziniere ihn, weil es so rätselhaft sei. Davon erzählt Igort in seinem neuen Buch „Berichte aus Japan. Eine Reise ins Reich der Zeichen“. Barbara Buchholz traf „Igoruto-san“ auf dem Comic-Salon Erlangen und unterhielt sich mit ihm über Japan, die Sprache der Comics, Roland Barthes und starkes Ki.
Barbara Buchholz: Sie waren 1991 das erste Mal in Japan, träumten aber vorher schon mehr als zehn Jahre davon, wie Sie schreiben. Wie kam es denn zu Ihrer Japan-Begeisterung?
Igort: Ich weiß nie ganz genau, warum ich etwas tue. Ich lasse mich treiben. In diesem Fall hatte ich begonnen, die Geschichte des „Gläsernen Mannes“ zu erzählen, eines Sumo-Ringers und zugleich sehr zerbrechlichen Menschen. Mich interessierte die japanische Auffassung von Stärke, die sehr anders als unsere ist. Die Muskeln eines Sumo-Ringers sind unter Fett verborgen. Der Kampf hat etwas mit dem Verlust des Gleichgewichts zu tun. Ich fand das eine sehr elegante Auffassung von Kraft. Davon ausgehend begann ich mich mit der japanischen Kultur zu beschäftigen. Eine Geschichte bedeutet für mich das Privileg, etwas zu lernen, mich in etwas hineinzugraben. Etwa zehn Jahre lang wuchs in mir so der Traum von Japan. 1986 bekam ich plötzlich einen Anruf von Ryuichi Sakamoto, einem meiner Lieblingsmusiker. Ich dachte erst, meine Freunde erlauben sich einen Scherz, aber nein: Er war durch Essays, die in Japan veröffentlicht worden waren, auf meine Arbeit aufmerksam geworden und fragte, ob ich mit ihm eine Geschichte für ein Buch zu seiner nächsten Platte machen wolle. Ein Comic mit Sakamoto-san wurde also meine erste Veröffentlichung in Japan.
Für dieses Buch gingen Sie aber noch nicht nach Japan?
Igort: Nein, wir trafen uns in Italien. Ein paar Jahre später besuchte ich auf der Buchmesse in Bologna den Stand des größten japanischen Verlags, Kodansha. Im Gespräch sagte ich, meiner Meinung nach sei es Zeit für eine japanisch-europäische Zusammenarbeit. Wie im Film wurde ich in einen abgetrennten Raum gebeten und gefragt, woher ich diese streng geheime Information hätte. Sie verfolgten diese Idee tatsächlich.
Und dann?
Igort: Zufälligerweise hatte ich schon für drei Wochen später einen Urlaub in Japan geplant. Das war 1991. In Japan brachte mich die Verlagsagentin zu ihrem Chef. Ich war der erste Europäer, der mit einem japanischen Verlag zusammenarbeitete, ich schuf Geschichten, die auf dem japanischen Markt veröffentlicht werden sollten. Ich musste dazu die Sprache des Manga lernen, die ganz anders als die europäischer oder amerikanischer Comics ist. Nach und nach drang ich in die japanische Gesellschaft und Comicindustrie ein.
Zu Beginn der 1990er Jahre arbeiteten auch andere europäische Künstler für den Verlag Kodansha, Baru zum Beispiel. Kannten Sie sich damals?
Igort: Ich kannte seine Arbeiten, aber lernte ihn erst in Tokio persönlich kennen. Seitdem sind wir sehr gute Freunde. Baru war einer der wenigen europäischen Künstler in Japan, die lernen wollten. Manga zu machen ist wie eine andere Sprache zu lernen. Baru war neugierig. Wir mussten uns anstrengen, denn wir konnten lange Geschichten veröffentlichen und uns diesem riesigen Comicmarkt stellen, dem größten der Welt. Wir veröffentlichten in sehr beliebten Magazinen. Umso wichtiger war es, dass wir uns mit der Sprache der Manga auseinandersetzten.
Was hat es damit auf sich?
Igort: Mein Lektor Yasumitsu Tsutsumi, der auch Baru und sogar Taniguchi betreute, sagte mir, dass es falsch sei, Manga mit Kino zu vergleichen. Manga hat viel mehr mit den goldenen Regeln des Theaters zu tun, der Einheit von Zeit, Handlung und Ort. Das war ein wichtiger Punkt für mich, denn ich liebte es, mit Rückblenden zu erzählen. Er erklärte mir, das könne den Leser verwirren. Anders als bei uns zu der Zeit sind wortlose Bildfolgen in Japan kein Tabu. Ich habe das dort gelernt, und es änderte meine Art zu erzählen. Ich war außerdem fasziniert von den langen Erzählformen. Man konnte Geschichten zeichnen, so lang und reich an Figuren wie die Buddenbrooks. Das war in Europa nicht möglich. Nach dieser Erfahrung begann ich in Japan den in Neapel spielenden Comic „5 ist die perfekte Zahl“. Die Grübeleien der Figuren, ihr alltägliches Leben, all das konnte ich dank der japanischen Sichtweise so erzählen.
Sie beziehen sich mit Ihrem Buchtitel auf Roland Barthes Essay „Das Reich der Zeichen“. Wie lange haben Sie gebraucht, die Zeichen zu entziffern?
Igort: Ich werde es nie wirklich lernen. Ich war bis heute mehr als 20 Mal in Japan, fast jedes Jahr. Auf jeder Reise bekam ich andere Einblicke. Ich werde Japan nie zu fassen bekommen, ich werde sein Geheimnis nie begreifen. Darum bin ich so fasziniert davon. Ich entdecke jedes Mal Neues, viel durchs Zeichnen. Ich habe immer ein Skizzenbuch bei mir. Und beim Zeichnen der „Berichte aus Japan“ konnte ich gewissermaßen in der Zeit zurück reisen und Erfahrungen erneut erleben.
Das japanische Schriftzeichen für Schreiben ist auch das für Zeichnen. In dem japanischen Zeichen „hito“ für Mensch, das einem umgekehrten Ypsilon ähnelt, kann man Beine und einen Oberkörper erkennen. Diese Kultur ist gewissermaßen die Synthese meines Zugangs zu Wort und Zeichnung. Als Kind war ich von amerikanischer Kultur beeinflusst, ich wuchs auf mit Will Eisner, Milton Caniff, Dick Tracy und Superhelden. Danach entdeckte ich europäische Künstler. Und in einem dritten Lebensabschnitt japanische, chinesische und andere ostasiatische Künstler. Sie beeinflussten mich grafisch, kulturell und menschlich. Als mein Lektor bei Kodansha mir die „Behandlung“ angedeihen ließ – ich sollte mehrmals hintereinander täglich eine 16-seitige Geschichte schreiben und zeichnen – war ich zunächst sehr wütend auf ihn, weil er mir niemals erklärte, warum er das tat.
Hat diese „Behandlung“ nicht Ihr Verhältnis zu ihm gestört?
Igort: Nein, ganz im Gegenteil! Anfangs hätte ich ihn schlagen wollen. Aber ein paar Tage später verstand ich, dass er mir etwas sehr Kostbares geschenkt hatte: Das Wissen, dass ich fähig war, eine Geschichte an einem Tag zu schreiben und zu zeichnen. Das hätte ich vorher nicht gedacht. Seitdem kann ich überall zeichnen, mit dem Block auf den Knien, im Zug oder im Flugzeug.
Sie zitieren Roland Barthes: „Der Text ist kein ‚Kommentar‘ zu den Bildern. Die Bilder sind keine ‚Illustration‘ zum Text.“ Das macht auch einen guten Comic aus, oder?
Igort: Allerdings. Es ist das Wesentliche der Comicsprache, wenn sie gut genutzt wird. Das ist selten, aber das Medium bietet die Möglichkeit. Und darum liebe ich es. Ich lebe dafür, Dinge durch dieses Medium zu entdecken. Es gibt eine Art Stimme, die einen führt, man muss ihr nur folgen – und versteht vielleicht hinterher, warum.
Sie folgen einfach Ihrer Intuition?
Igort: Ja. Und sehen Sie, die „Berichte aus Japan“ sind mein bisher größter kommerzieller Erfolg, aber zugleich das Buch, das ich am wenigsten geplant habe. Ohne die Reaktionen meiner Facebook-Freunde würde es gar nicht existieren. Ich arbeitete an einem anderen Projekt und veröffentlichte Tagebuch-Skizzen aus Tokio. Aber ab einem gewissen Punkt musste ich erklären, was ich überhaupt dort getan hatte, wer bestimmte Personen waren und so weiter. Ich schuf also die fehlenden Rahmen. Ab dem Moment begann das Buch zu existieren. Und ich bekam tolle Rückmeldungen.
Hier blättert Igort durch das Skizzenbuch, das den „Berichten aus Japan“ zugrunde liegt:
Sie zeigen in Ihrem Buch nicht die schrillen Seiten Tokios, die viele mit der Stadt verbinden …
Igort: Ich war so oft dort, dass viele Ansichten der Stadt für mich normal sind und ich sie kaum noch wahrnehme. Mir sind andere Aspekte wichtig. Jetzt zum Beispiel schreibe ich über die Beziehung Tokios zum Wasser und dessen Bedeutung für östliche Spiritualität. Mich interessiert die Geschichte. Meine geistigen Onkels sind Reisende wie Matsuo Basho, der seine Haikus unterwegs schrieb. Der Weg an sich war wichtig, nicht das Ziel. Auch Hokusai und Hiroshige malten, was sie auf Reisen sahen. Sie erfanden die Peinture en Plein Air lange vor den Impressionisten …
Meditieren Sie eigentlich noch, wie Sie das in Japan taten?
Igort: Ja. Das ist sehr wichtig für mich. Damals suchte ich überall in Japan nach meinem Meister und fand ihn schließlich fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt. Die Energie dort, das Ki, war sehr stark. Ich ging jeden Tag hin. Sie brachten einem bei, Abstand zu den Dingen im Leben zu bekommen und auf sein wahres Selbst zu achten … Eine sehr schöne Erfahrung.
Igort
Berichte aus Japan
Eine Reise ins Reich der Zeichen
Aus dem Italienischen von Myriam Alfano
Reprodukt, 184 S., 24 Euro
erscheint im Juli 2016
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