BIG IN JAPAN: SchönerDenken berichtete vom Filmfestival „Nippon Connection“ und widmet auch sonst den ganzen April der japanischen Kultur. Hendrik schaut sich deswegen aus 9.350 km Entfernung den ‚Kultfilm‘ Yentown an.
Seine Coverbewerbung deklariert diesen Film als „kultverdächtig“ (Cinema) und als einen „der besten Filme, die jemals das Licht der Leinwand erblickt haben“ (Splatting Image), und einiges an Preisen abgeräumt hat der Film seinerzeit ebenfalls. Angeblich soll in bestimmten japanischen Kreisen eine Zeitlang sehr wichtig gewesen sein, den Film nicht nur zu kennen, sondern vor allem auch die richtige Meinung zu ihm zu haben.
Die Rede ist von dem 1996 in Japan gedrehten Film Yentown oder Swallowtail Butterfly von Regisseur Shunji Iwai. Einer Genrezuordnung verweigert sich die Produktion, was man an den zuweilen etwas verzweifelt wirkenden Umschreibungen sieht – „poetisches Gangsterepos“, „schwarzhumoriges Sozialdrama“, „avantgardistisches Coming-of-Age-Drama“, „sozialkritischer Musikfilm“ und so fort. So richtig passen tut von den Schuhen keiner, und keiner ist völlig daneben. Also ignorieren wir für den Moment das Fehlen eines solchen Etiketts und schauen uns völlig ohne grobgestrickte Vorerwartung an, was für ein Film uns da begegnet:
„Once upon a time, when the yen was the most powerful force in the world, the city overflowed with immigrants, like a gold rush boom town. They came in search of yen, snatching up yen. And the immigrants called the city Yentown. But the Japanese hated that name. So they referred to those yen thieves as Yentowns. It’s a bit puzzling, but „Yentown“ meant both the city and the outcasts. If they worked hard, earned a pocketful of yen, and returned home, they were rich men. It sounds like a fairy tale, but it was a paradise of yen, „Yentown“. And this is the story of Yentowns in Yentown.“
Während das Filmcover selbst behauptet, diese Barackensiedlung existiere tatsächlich außerhalb von Tokyo, finde ich in diversen Artikeln die Bemerkung, es handle sich hier um eine Fiktion, und der Film sei in einem alternativen Japan der Moderne angesiedelt. Aus meiner Perspektive hier, rd. neuneinhalbtausend Kilometer weiter westlich, macht das nicht wirklich einen Unterschied, denn futuristisch geht es hier keineswegs zu. Selbst wenn es dieses Yentown nicht gibt, so denke ich mir bald, so existiert es unter anderem Namen und irgendwo anders vermutlich dennoch.
Aber worum geht es in Yentown? In dem heruntergekommenen Ghetto am Metropolenrand, in dem – meist aus China illegal eingereiste – Schrottsammler, Bettler, Kleinkriminelle und Prostituierte auf ihre jeweiligen Weisen zu überleben versuchen, begegnen wir einem kleinen Mädchen am Totenbett seiner Mutter.
Kaum ist die Leiche bei den Behörden abgeliefert, fallen die Nachbarinnen über die wenigen Ersparnisse der Verblichenen her und überlassen das Mädchen seinem Schicksal. Es landet in der Obhut einer jungen chinesischen Prostituierten namens Glico, die dem Mädchen den Namen Ageha gibt. Als ein Yakuza, der Ageha vergewaltigen will, in dem Stundenhotel getötet wird, findet sich im Körper der Leiche eine Cassette mit dem Sinatra-Klassiker „My Way“ – und Daten, die es ermöglichen, Falschgeld herzustellen, mit dem die städtischen Geldwechselautomaten überlistet werden können.
Die so zu plötzlichem Reichtum gekommenen Yentowns beginnen sich ihre Träume zu erfüllen. Vor allem Glico kann ihren Traum leben, Sängerin zu werden und hat über Nacht einen Riesenerfolg. Aber natürlich gibt es höchst unfreundliche Menschen, die auf der Jagd nach dieser Cassette sind, und einem Mädchen aus Yentown wird so plötzlicher Erfolg auch nicht von allen gegönnt …
Der nicht ganz zweieinhalbstündige Film durchwandert die Genres, beginnt ruhig und ernst, pickt am Rande ein paar humoristische und auch ein paar sehr bildpoetische Momente auf, gewinnt an Fahrt, nimmt zeitweilig das Element der Musik in die Mitte (weswegen für die Rolle der Glico eine echte Sängerin verpflichtet wurde), schwenkt dann zum Gangsterdrama ab und endet zuletzt in der Atmosphäre und sogar mit den gleichen Sätzen, mit denen er begonnen hat. Diese Unberechenbarkeit mag manchem unverdaulich erscheinen, aber ihren Reiz hat sie, finde ich, doch, zumal die sehr eigenständige Bildsprache sich alle diese Versatzstücke aneignet und zu einem spürbar durchdachten Film zusammenfügt.
Diese Bildsprache bedient sich neben der durchgehend verwendeten Handkamera oft auch extremen Perspektiven, wie z.B. in jener beeindruckenden Szene, in der sich die halbwüchsige Ageha einen Schmetterlingsflügel eintätowieren lässt. Dabei erinnert sie sich, wie sie als Kind in eine schmutzige Toilette eingesperrt warten musste, während ihre Mutter einen Freier ‚bediente‘. Das Kind versucht, einen Schmetterling zu fangen, der sich in die Kammer verflogen hat und tötet ihn dabei versehentlich. Die Kamera ist mit in die enge Kammer gesperrt, springt von dem Blickwinkel des Mädchens zur Perspektive des Schmetterlings und gestaltet die Szene zu einer traurigschönen Metapher für die Aussichtslosigkeit des Träumens in der grausamen Welt von Yentown.
Was sicherlich am meisten dazu beigetragen hat, dass Yentown in Europa viel weniger bekannt ist als andere moderne japanische Filme, ist seine Dreisprachigkeit. Japaner und Chinesen verstehen einander nicht, und man behilft sich, wenn man miteinander reden muss, mit gebrochenem Englisch. Dieses Hin und Her ist bei einem so langen Film schon ausgesprochen anstrengend, und ich empfinde es als eine bedauernswerte Reduktion, dass ich gezwungen bin, auf die deutschen Untertitel zurückzugreifen. Andererseits würde eine vollständige Synchronisation den Film tatsächlich einen wesentlichen Teil seines Charismas kosten. Die verschiedenen Klangfarben der Sprachen, die Momente des Nichtverstehens im Wechsel mit dem Verstehen tragen sehr zur Magie des Ganzen bei. Mit leichtem Bedauern bin ich daher doch ganz froh, dass auf eine Eindeutschung verzichtet wurde.
Ob die in Yentown erzählte Subkultur bei mir so ankommt, wie der Regisseur es beabsichtigt hat? Ich glaube, das darf ich – in groben Zügen – schon hoffen, denn die verschiedenen Elemente des Kultur- und Gesellschaftskonfliktes, die hier zutage treten, sind für mich erkennbar. Dass mir natürlich zugleich vieles von dem völlig verschlossen bleiben muss, was ein Japaner oder ein Chinese hier erkennen mögen, darauf weist mich Yentown zugleich mit großer Offenheit hin.
Einen Film aus einer Entfernung von über 9.000 km zu betrachten, lässt schon das ein und andere Detail auf der Leinwand verschwinden. Insgesamt aber bin ich doch sehr überrascht davon, wie gut der Film für mich zweieinhalb Stunden lang ‚funktioniert‘ hat. Er ist thematisch und bildsprachlich zu weit weg von mir und meinen Vorlieben, um bei mir persönlich Kultverdacht auszulösen (da gibt es andere fernöstliche Filmwerke). Aber jedem empfehlen, der sich für richtig gutes fernöstliches urbanes Kino interessiert, mag ich ihn doch.
Yentown erschien als DVD 2006 bei RapidEyeMovies. Und hier gibt’s noch eine andere Rezension.