Zwischenbemerkungen aus dem Universum nebenan

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Ein Beitrag zur Blogparade FASZINATION DES LESENS

„Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt“,

so lautet eines meiner Lieblingssprichworte, und das ist ein sehr guter Einstieg in die Beantwortung der Frage, was für mich die Faszination des Lesens ausmacht.

Bitte nicht stören! Bin in 2 Kapiteln wieder da!

Vorübergehend verlesereist

Wie oft denkt man sich, beim Durchwandern eines schönen alten Parks oder vielleicht auch beim Durchstreifen einer duftenden Heidelandschaft „Oh, was für ein nettes Plätzchen, schade, dass ich sowas nicht daheim irgendwo habe“, bevor man in seine Zwei-Zimmer-Stadtwohnung zurückkehrt. Bücher sind eine Möglichkeit, sich diesen Wunsch zu erfüllen, denn man kann sie aus dem Regal ziehen, aufschlagen, sich vertiefen und verreisen: Orte betreten, die man einst besuchte und mit heimbrachte; ferne Orte, deren exotischer Gewürzduft aus den Seiten emporsteigt; sogar Orte, welche es so gar nicht mehr gibt oder die der Geographie gänzlich entgangen sind.

So geht es mir zumindest: ich liebe es, wenn Bücher mir von besonderen versteckten Orten, magischen Plätzen, tiefen Wäldern, uralten verwinkelten Städten und Gebäuden erzählen. Es kommt vor, dass mir die Handlung dann zuweilen eher im Weg ist, und ich sie am liebsten schonmal vorschicken möchte, um allein noch ein wenig zu verweilen – und es gibt Bücher, die einem dies tatsächlich gestatten.

Unter den ersten Orten, die ich belesereiste, waren die sorgenfreien magischen schwimmenden Glücklichen Inseln, die grünen Hügel um und die Kaninchenbauten unter Watership Down, das abweisende, unvermenschte Alaska der Goldsucher ebenso wie der tief in Zeit und Menschenhistorie verwurzelte Tel Makor nahe Jerusalem. Ich bibberte – und das nicht nur vor Kälte – in den windgeistdurchtosten kanadischen Wäldern, tuckerte mit Großer Tiger, Christian und dem zwielichtigen Grünmantel durch die Mongolei nach Urumtschi, hinterließ Lesespuren in der magischen Südsee und so weiter, und so weiter – ja, man kann sagen, meine Augen und meine Phantasie sind in meinen jungen Jahren ganz schön rumgekommen. Natürlich bin ich auch schon zu diesem und jenem fernen Stern gereist, wobei ich jedoch nicht mehr genau erinnere, ob das anfing, bevor oder nachdem ich quer durch Fangorn und Moria gelatscht und von Insel zu Insel des Erdseereiches getrampt bin.

Lese Parade (Lyra von schwarzekreide.de)Später kamen noch andere Orte, Städte, Länder, Welten hinzu, und diese lesend bereist zu haben, hat mich in einigen Fällen ebenso oder gar mehr beeinflusst als manche Reisen, die mein Körper mitgemacht hat. Ich erinnere mich deutlicher an das Gefühl, mit den Händen die uralten Steine von Gormenghast entlangzustreichen, als an den Sonnenbrand, den ich mir mal in Litauen geholt habe; der Erinnerung an einen wundervollen Monat im kanadischen Busch vor mehr als 20 Jahren steht gleichberechtigt das Gefühl gegenüber, zum erstenmal jenes namenlose stillgelegte Silberbergwerk zu betreten, das Schauplatz der für mich auf immer und ewig wichtigsten Kurzgeschichte meines Leselebens ist. Das Schöne an den ‚erlesenen‘ (welch schönes Wort…) Reisen ist dabei, dass man sie erneut vollziehen kann.

Ich schreibe bewusst nicht ‚wiederholen‘, denn eine wach unternommene Reise (das gilt übrigens auch für körperliche Unterwegsigkeiten) ist jedesmal eine neue Unternehmung, obschon die Wegroute die gleiche sein mag: die Luft ist vielleicht kühler als beim letzten Mal, man trägt eine andere Brille, ist zu einer anderen Uhrzeit, Lebenszeit dort unterwegs, womöglich ist man diesmal auch in Begleitung, während man das letzte Mal allein den Weg beschritt. Zwischenzeitlich hat man ja auch viele andere Wege beschritten, Bücher gelesen, und diese Erfahrungen bringt man bei der Wiederbereisung eines schon vertrauten Leseortes mit.

Es gibt dabei auch Fernreisen, die nur wenige Minuten währen (was in der analphabetischen Körperwirklichkeit schwierig ist). Merlins Gedicht aus Tennysons ‚Idylls of the King‘ („Rain, rain, and sun! a rainbow in the sky! …“) ist ein tiefes Atemholen im Freien unter einem Regenbogen, direkt nachdem ein kurzer Sommerregen die staubige Luft gereinigt und gekühlt hat. Eine der Genau-So-Geschichten Kiplings kann ein kurzweiliger Trip in die flirrend-schwüle Umgebung eines indischen Dschungels sein; eine der kühlen, leidenschaftlichen Pirx-Geschichten mag sich als eine heilend erdende Wanderung unter dem atmosphärefreien, greifbar zeitlosen Sternenhimmel eines fremden Planeten erweisen. Ein Ausflug in eine der Unsichtbaren Städte Calvinos ist ein den Geist anregender Abstecher auf einen der schönsten Sprachspielplätze des mir bekannten Universums. Und so weiter und so weiter… es gibt den Spruch, der Besitz eines Buches bewahre davor, allein zu sein; ich würde eher sagen, der Besitz eines Buches bewahrt vor dem Eingesperrtsein. Auf einer meiner früheren Wohnungstüren stand „Wenn ich nicht aufmache, bin ich im Universum nebenan“, und wer das für eine Form von Eskapismus hält, hat nur zuviel Angst, sich zu verlaufen und es nicht begriffen.

Natürlich kann man die Faszination des Lesens auch in andere Metaphern fassen: Bücher als Gefährten, Bücher als Grundnahrungsmittel, und das eine negiert das andere keineswegs. Meine Bücher sind meine Freunde (ich mag es nicht, wenn sie geknickt sind). Und wenn ich mal einen ganzen Tag nichts als Infofastfood gelesen habe, fühle ich mich auf eine bestimmte Weise unernährt.

Aber für den Augenblick möchte ich meine Bücher als etwas sehen, in das ich gerne hineingehe, um einige Zeit später wieder hervorzutreten. Lesen ist keine Auszeit vom Leben, es ersetzt auch nicht das Leben oder schiebt sich gar davor – es ist einfach ein Teil des Lebensweges, den ich mir aussuche, und wenn der mich dienstagabends zwischen Abendessen und Zubettgehen durch die japanischen Alpen des 19. Jahrhunderts führt, ist das sicherlich eine faszinierendere Erfahrung als das meiste andere, was man in dieser Zeit machen kann.

Ein Ausschnitt aus meinem kleinen Lesereisebüro...

Tausend Türen ...

Wenn ich mir hier und heute einen Buchort aussuchen dürfte, den ich mal ‚in echt‘ bereisen dürfte, würde ich die Imperiale Bibliothek der Mahigul besuchen wollen. Das klingt erstmal etwas nüchtern, wenn man nicht zufällig einer von denen ist, die sich ohnehin mit Borges „das Paradies immer als eine Art Bibliothek“ vorstellen. Das Besondere an der Bibliothek der Mahigul ist, dass es eine Gartenbibliothek ist: eine weitläufige, abwechslungsreiche Parklandschaft mit Wiesen und Wäldchen, duftigen Picknickplätzen an plätschernden Bächen, Terrassen und Wandelgängen, schattigen Pavillons und sonnengewärmten Aussichtspunkten. Überall gibt es Ruhe- und Liegegelegenheiten, und wer sein Buch nicht mitbringen mag, findet in die Sitze integriert Schaltstellen, die ihm den Lesezugriff auf die unterirdisch gelegenen Archive gewähren. Das Gelände ist so weitläufig, dass man sich so weit zurückziehen kann, wie man möchte, indem man einfach die Gesprächszirkel hinter sich lässt und ins nächste Tal wandert, um dort in Ruhe seine Lieblingsgedichte zu genießen – schweigend oder vielleicht auch laut deklamierend, der erwartungsvollen, von Insekten akzentuierten Faststille eines Feldes voller Mohnblumen zugewandt.

Und von dort kann ich ja weiterreisen, vielleicht an ein aufregendes belebtes Plätzchen, das New York der 1920er Jahre vielleicht, ein Segelschiff im Sturm bei Kap Horn, eine Kneipe in Dublin, ein Basar in Damaskus, ein Raumhafen irgendwo in der Magellan’schen Wolke. Das alles und mehr finde ich in meinen Lesegärten, und diese mietkostenfreie universenweite Ergänzung meiner 75m²-‚Bibliothek mit Waschgelegenheit‘ irgendwo in Rheinhessen möchte ich nicht missen. Wie schon Terry Pratchett vom Lord of the Rings so schön schrieb:

„Dieses Buch führte mich zu einer Bibliothek. Und diese wiederum führte mich … überall hin.“

… Blogscriptum [oder vielleicht Postblogtum?]: Auf folgende Werke habe ich Bezug genommen (vielleicht möchte es ja jemand wissen): JAMES KRÜSS, Die Glücklichen Inseln hinter dem Winde. RICHARD ADAMS, Watership Down. JACK LONDON, Alaska- & Goldsuchergeschichten. JAMES A. MICHENER, Die Quelle. ALGERNON BLACKWOOD, Der Wendigo. FRITZ MÜHLWEG, Großer Tiger und Christian. JOHN STEINBECK und ROBERT LOUIS STEVENSON, Südsee-Geschichten. JOHN RONALD REUEL TOLKIEN, Der Herr der Ringe. URSULA K. LE GUIN, Erdsee-Romane & –erzählungen. MERVYN PEAKE, Gormenghast. URSULA K. LE GUIN, Die Sterne unten (aus: Die 12 Striche der Windrose). ALFRED LORD TENNYSON, Idylls of the King. RUDYARD KIPLING: Genau-so-Geschichten. STANISLAW LEM: Die Jagd & Terminus (Geschichten vom Piloten Pirx). ITALO CALVINO: Die Unsichtbaren Städte. BOKUSHI SUZUKI: Leben unter dem Schnee. URSULA K. LE GUIN: Woeful Tales from Mahigul (aus: Changing Planes).

Weitere Auslassungen von mir zum Thema Buchreisen, Buchfreunde, Buchnahrung … hier, hier und hier.

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