Korfu – Meerjungfrau in der Midlife Crisis (2)

Korfuse Reisenotizen eines gerade dem Flugzeug Entstiegenen – zweiter Teil

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5. „Wir sagen Ihnen schon, was hier sehenswert ist…“
Wenige Luft-, aber ziemlich viele Fahrkilometer unterhalb des Pantokrators liegt der Bergort Peritheia, den ich mir vorab als einen der für mich interessantesten Punkte vorgemerkt hatte, und deswegen war dies einer der ersten Orte, die wir besuchten. Inmitten der nach Hineinwanderung schreienden weiten grünen Hügellandschaft sind die etwa zwei Dutzend Gebäude des alten Dorfes verstreut. Die für eine so abgelegene Siedlung teilweise überraschend großen Häuser sind vor Jahrzehnten bereits verlassen worden, die Dächer sind eingestürzt, das Mauerwerk brüchig, in den Räumen wuchern Dornenranken über Steinschutt.

Die Fahrstraße endet am ersten Haus, man kann nur zu Fuß zwischen den Ruinen umherstreifen. Die über dem Dorf gelegene Kirche ist ebenfalls verlassen, das einzige markierte Grab offenbar geräumt. Lt. Reiseführer ist dies ein historischer Ort „wie aus venezianischer Zeit“, und ich hatte gedacht, dies sei vielleicht eine Stätte, an der man der an der Küste von den Swimming Pools und Mini Markets längst unterpflügten wechselvollen Inselgeschichte etwas nachspüren könne.

Die Häuser schienen mir der Bauart nach nur zum geringsten Teil älter als vielleicht 100 Jahre, was die Anmoderation unter Bezug auf Venedig doch etwas hergeholt erscheinen ließ, denn Korfu verloren die Venezianer schon 1797 an Napoleon. Also was konnte Peritheia erzählen?

Foto: Hendrik SchultheAußer dem zwiespältigen Charme eines verlassenen menschlichen Lebensortes und natürlich der grandiosen Umgebung erwies sich der Ort als durchaus etwas enttäuschend: Es gibt natürlich, gleich am Ortseingang, drei Tavernas, die mit ihrer Werbebeschilderung das brüchige Charisma des Ortes korrumpieren, und der Umstand, dass die einzige Zufahrtsstraße offenbar in Kürze geteert werden soll, lässt vermuten, dass der Ort künftig touristisch noch stärker genutzt werden wird. Also was sollte ich mir hier wünschen – mehr oder weniger touristische Inszenierung? Einen wirklich verlassenen, vielleicht überhaupt nur für Wanderer und zufällig erreichbaren Ort, den man ohne Einflussnahme dem Zahn der Zeit überlässt, so dass er seine authentische Rätselhaftigkeit bewahrt, denn Alltagsgeschichte hinterlässt nunmal oft nur fragmentarische und unerklärte Zeugnisse? Oder einen mehr oder weniger sanft aufbereiteten Museumsort, womöglich mit einer wiederhergestellten Inneneinrichtung in einem der besser erhaltenen Häuser und Infotafeln zur Geschichte des Ortes, falls vorhanden, ein paar alte Fotografien?

Ich weiß es nicht, und offenbar wusste es bislang hier auch niemand, und so verhungerte das Ganze für mich in einer penetrant und zugleich permanent wirkenden Halbfertigkeit, die mich wieder einmal resignierend denken ließ: hier hätte man vor 30 Jahren sein müssen. Ich kam mir ein bisschen vor wie der Besucher einer Party, der erst zu einem Zeitpunkt eintrifft, zu dem schon die ersten Kippen in der Bowle schwimmen. Wir gingen jedenfalls nach einer Viertelstunde wieder, fanden dabei noch ein paar frisch gefallene Walnüsse, und der Geschmack dieser Nüsse und die Beobachtung der fingerlangen Eidechsen auf den warmen Steinen hat uns wohl mehr verraten als der ganze Rest des Ortes.

6. Von Burgen und Bettwäsche

Peritheia erwies sich in den folgenden Tagen als eine repräsentative Erfahrung: auf Korfu wurde längst jede kulturelle und geographische Besonderheit auf ihre touristische Auswertbarkeit hin ausgereizt, dies jedoch meistens mit genau jener merkwürdig zwiespältigen Halbherzigkeit: eines der Wahrzeichen des Städtchens Kassiopi zum weiteren Beispiel – wir befinden uns wieder im Einzugsbereich des albanischen Mobilfunknetzes und damit im Nordosten – ist eine halbwegs erhaltene Kastellruine aus dem 13. Jahrhundert. Der Eingangsbereich wird derzeit offensichtlich mit großem Aufwand rekonstruiert, und das beeindruckende massive Durchgangsportal ist bereits fertiggestellt. Um jedoch zu diesem Kastell zu gelangen, muss man als Ruineninteressierter die ungefähre Richtung und den Einstieg in den richtigen, sehr privat aussehenden, von struppigen Kätzchen und trocknenden Laken bevölkerten Hinterhofdurchstieg erraten – und das ist nicht erkennbar ein Baustellenprovisorium, sondern tatsächlich der einzig vorgesehene Zugang.

Einerseits ist das ja irgendwie sympathisch, und man könnte dahinter eine sehr undeutsche entspannte Souveränität vermuten, will sagen: Wer in meine Geschichte gucken will, muss auch mit meiner Gegenwart klarkommen, bzw.: zur Burg geht’s an der aufgehängten Bettwäsche vorbei. Aber zugleich passt es so überhaupt nicht zu der routinierten Inszenierung des Ortes als Touristenschaubüdchen, wo es sogar eine dieser unsäglichen eisenbahnimitierenden Vollgummireifen-Elektrobimmelfahrangelegenheiten gibt. Oder ist es ein Zeichen der Ratlosigkeit, das sagt: Wir wollen uns eigentlich gar nicht so vermarkten, aber es bleibt uns ja längst gar nichts anderes mehr übrig.

Immerhin arbeitet über die Hälfte der Korfioten im Tourismus, und bis zu seinem Höhepunkt in der Mitte der 90er war der Tourismus für die von Abwanderung und Bevölkerungsschwund bedrohte Insel ein Segen. Seitdem zeugen zahlreiche begonnene und längst aufgegebene Rohbauten und vielsprachige „Zu verkaufen“-Schilder davon, dass die Meerjungfrau ihre beliebtesten Tage im Augenblick hinter sich hat, und da stellt sich auch mir als einem der jüngsten Besucher die Frage: was bleibt der nicht mehr makellosen Schönheit zu tun übrig?

7. „Ehrlich, wenn ich die Brille abnehme, sind Sie viel hübscher!“
Dass die Korfioten weiterhin gastfreundlich sind, aber dies eben auf geschäftstüchtige Weise, ist ihnen wohl kaum vorzuwerfen, denn diesbezüglich sind sie genau das, was wir als Touristen aus ihnen gemacht haben. Es sind stets im Grunde alle Beteiligten, die bei der touristischen Verramschung geographischen und kulturellen Erbes im Wege des Pauschaltourismus zuletzt Leidtragende sind: die ‚Verkäufer‘, die ‚Käufer‘ und die ‚Ware‘. Dieses Gefühl war für mich auf Korfu sehr präsent, und wenn ich jetzt im gleichen Tippanlauf schreibe, dass mir die Insel trotzdem gefallen hat, glaubt mir das natürlich keiner. Die Kunst ist wohl in diesem Fall, das genaue Hinsehen zu verlernen, die Kritikbrille abzusetzen, für die Zeit des Urlaubs wegzuschließen, bewusst etwas unscharf wahrzunehmen: schau, die Strände sind schön, die Fassaden sind so herrlich typisch mediterran, die Olivenbäume und Zypressen prägen eine einzigartige Landschaft.

„Sie kommen als Gast und gehen als Freund“ ist einer der Werbesprüche für Korfu, und besteht Freundschaft nicht auch aus der gegenseitigen Bereitschaft, die kleinen Fehler des anderen zu übersehen und dafür die großen Tugenden zu würdigen? So gesehen, kann man sich mit Korfu für eine Zeit wirklich anfreunden, auch heute noch, wo die Meerjungfrau in der Midlife Crisis steckt.

8. Noch auf dem Rollfeld Hinterhergerufenes
Gibt’s noch was?

Fahren Sie in der frühen Nachsaison nach Korfu, etwa Ende September, dann ist es kühl genug zum Wandern und noch heiß genug zum Baden, und die gelegentlichen kurzen morgendlichen Regenschauer sind meist rasch wieder vorbei. Sie können hier innerhalb einer Stunde und völlig unabhängig von dem, was Sie gerade anhaben, locker zweimal hintereinander völlig falsch und völlig richtig angezogen sein. Wir empfehlen: Badezeug, darüber leichte Wanderkleidung und etwas Dünnes gegen Regen im Rucksack.

Nehmen Sie selber etwas Niem oder Teebaumöl gegen die Stechmücken mit, denn vor Ort kriegen Sie nur teure Chemiebömbchen. Umgekehrt kriegen Sie Aspirin schon für 60 ct. die Packung. Korfu ist ein Mekka des Migränetourismus.

Sie brauchen Ihr Haustier nicht zu vermissen: jedes Gebäude hat mindestens einen Hund und zwei Katzen um sich herum, und diese freundlichen Wesen begleiten den vereinsamten Wanderer auch gerne mal ein Stück seines Weges. In der Disziplin des 250m-Mittelstrecken-Dazugehörens sind die korfiotischen Hunde europaweit führend.

Ende September kriegen Sie, das muss man einschränkend anmerken, Porzellanteller mit Heiligenbildchen, Luftmatratzen, Olivenöl, Sonnencreme und Kühlschrankmagneten mit Inselimpressionen nur noch in acht von zehn Läden bis spät in die Nacht. Andererseits bekommen Sie Mietwagen ziemlich günstig schon ab ca. 30 € pro Tag. Seit wir da waren, muss man aber bei der Abholung versprechen, keinesfalls mit einem Corsa die gelbe Route von Loutses Richtung Kassiopi zu nehmen. Niemals nicht. Nie.

Wir empfehlen ganz allgemein, Station im Inselnorden zu nehmen, das ist einfach der schönere Teil. Der schönste Strand, den wir fanden, war Agios Stefanos im Nordwesten. Das wiederum völlig verfeierbritete Sidari dagegen hat uns „not amused“.

Und nochmal: Schauen Sie nicht so genau in die Ecken, erwarten Sie kein unberührtes Paradies, das Ihnen vorgaukelt, Sie wären dessen Entdecker. Nehmen Sie Korfu so, wie es ist, setzen Sie die Pingelbrille ab und genießen Sie die Tage. Dann lohnt es sich. Auf meiner persönlichen Inselbewertungsliste liegt die Meerjungfrau hinter Teneriffa, gleichauf mit Zypern und weit vor Malta. Haben Sie einen netten Urlaubsflirt mit der freundlichen Dame. Man muss sich ja nicht immer gleich fürs Leben verlieben. Schöne Ferien!

Kaliméra und Adió sagt:
Hendrik Schulthe

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