„Sie haben uns unsere Stimmen genommen. Und jetzt nehmen sie uns unsere Worte.“
Hendrik bestaunt „La Antena“
Der argentinische Stummfilm La Antena (Die Antenne) von 2007 – offenbar das Highlight des Fantasy Filmfestes 2007 und nun auf DVD erschienen – ist nicht primär ein Film, der eine Geschichte erzählt: Vor allem ist er eine einzige große bewegliche Metapher; eine so faszinierend und detailliert gezeichnete Verbildlichung, dass vor lauter Hingucken auf die lyrische Bildpoesie zuweilen das Prosaische der Handlung völlig in den Hintergrund gedrängt wird.
Der Film zeigt uns eine winterliche Großstadt, in der ein mächtiger Medienzar die Bewohner fest in seiner Hand hat: Er hat die einzige Stimme und stellt die entmündigten Bürger mit einem vorformatierten Einheitsbrei aus Mediennahrung (Allgemeinplätzchen?) ruhig. Dumm für ihn nur, dass er die einzige Stimme der Stadt zwar kontrolliert, sie ihm aber nicht selbst gehört: Es ist die einer berühmten Sängerin, deren Auftritte seine Medienmaschinerie ausstrahlt. Um seine Macht noch absoluter werden zu lassen und die hungrige Maschine, welche sich von den gestohlenen Stimmen der Bürger ernährt, weiter zu füttern, entführt er die Sängerin und läßt ihre Stimme von einem Wissenschaftler so verändern, daß damit die Menschen auch ihrer Worte beraubt werden können. Aber ein kleines Mädchen, ein blinder Junge und drei mutige stimmlose Bürger nehmen den Kampf auf gegen das scheinbar unaufhaltsame Böse.
Zunächst einmal bewundere ich den Mut und die Konsequenz der Erfinder des Films, einen Spielfilm über den Diebstahl von Stimmen zum allergrößten Teil tatsächlich als (auch noch durchgehend schwarzweißen) Stummfilm zu drehen: ein Großteil der Dialoge wird in Form von Sprechblasen eingeblendet – die Worte schweben vor den Gesichtern der Sprecher oder ragen auch schon einmal kantig aus dem Trichter eines Megaphons hervor. Tatsächlich sind die einzigen gesprochenen Worte, die man im Laufe der 100 Minuten zu hören bekommt, die der Sängerin und ihres Sohnes, die nur im Geheimen miteinander sprechen, denn niemand darf erfahren, daß der Junge die Gabe der Stimme geerbt hat. Auch die Geräusche des Films – die Betriebsamkeit einer Großstadt, Schritte, zuschlagende Autotüren, Applaus, Schläge, Maschinengewehrsalven – werden völlig ausgeblendet.
Dennoch ist La Antena kein leiser Film. Dem orchestralen Soundtrack, der dem Film beigegeben ist, gelingt es souverän, die fehlenden Geräusche nicht nur nachahmend zu ersetzen, sondern ihnen eine völlig neue Dimension und Tiefe zu geben. Das Piano als ‚klassischer‘ akustischer Verstärker von Stummfilmdramaturgie wird hier, unterstützt mit allen Mitteln der Orchestrierungskunst, zum Deuteragonisten gemacht, und der mir zuvor völlig unbekannte Komponist Leo Sujatovich bekommt von mir den Privatoscar für die gelungenste Beifügung einer musikalischen Ebene zu einem Film seit sehr langer Zeit: Fast könnte der Film selbst als bloße Verbildlichung eines zuvor völlig eigenständigen sinfonischen programmatischen Werkes entstanden sein.
Da die Worte des Films nur zu einem ganz geringen Teil gesprochen, vielmehr eingeblendet werden, bleiben die Dialoge zwangsläufig knapp und vergleichsweise holzschnittartig. Fast braucht man die eingeblendeten deutschen Untertitel gar nicht, denn die Art, wie die spanischen Worte als dynamische Bildelemente eingefügt sind – im Raum schwebende Fragen, weggewischt werdende Proteste, alles niedermähende gebrüllte Schießbefehle – macht ihre jeweilige Bedeutung mehr als offensichtlich. Was in diesem Film mitgeteilt wird, gelangt nur zu einem Bruchteil über Worte von einer Figur zum anderen oder zum Zuschauer: La Antena ist, abgesehen von der Musik, konsequent umgesetzte Bildkommunikation. Wenn von den medienbetäubten stummen Bewohnern der Stadt in gemächlichen Schwaden Worte aufsteigen, weil sie von der großen Maschine angesaugt und geraubt werden, dann ist es nicht wichtig, welche Worte das sind – jedoch was mit ihnen geschieht, ist durchaus vielsagend.
Viel sagen bzw. viel schreiben werden sicher in naher Zukunft auch zahlreiche FilmwissenschaftlerInnen über La Antena, denn der Film ist ein (manchmal schon fast überstopftes) Lehrstück in deutungsfähiger Bildsprache, der prall voller verstummenlassender Bildmomente steckt. Wenn die zum Ausgleich für die Gabe der Stimme gesichtslose Sängerin im Schlafzimmer ihres Kindes am Fenster steht, und auf das beschlagene Glas ein Gesicht, das ihre Gefühle ausdrückt, erst aufmalen muß, dann ist das auch für mich Zuschauer ein stiller, tiefer Augenblick, den gesprochene Interpretationen nur kaputtschwafeln können (was jedoch, wie ich annehme, nur wenige entsprechend Interpretationswillige hindern wird).
Ich ziehe es vor, mich an dieser Stelle einfach nur darüber zu freuen, daß ich La Antena begegnet bin. Es ist zweifellos ein nur bedingt unterhaltsames, anstrengendes Bildgedicht, in dessen dichten Tableaus sich ohne die Hilfe der Musik die Handlung zuweilen kaum in Erinnerung zu bringen vermöchte. Zugleich ist es ein Film, der zum Nach-Denken und Nach-Spüren einlädt.
Das tut er allerdings nicht, weil die Bezüge der gezeigten Bilder zu unserer Realität so schwer nachzuvollziehen oder die anmoderierten ethischen Wertungen so umwerfend neu wären. La Antena traut sich jedoch eine poetische Ernsthaftigkeit, die in Kombination mit Zeitkritik aus erfrischend querem Winkel daherkommt. Zeitkritik unterfüttert ansonsten derzeit zumeist entweder als zweite Deutungsebene dramatisches Starkino, oder aber sie wird als zynische Satire serviert, deren Realitätsbezüge man angenehm verkopft diskutieren kann. Wortlose Poesie ist jedoch zuweilen viel persönlicher als die brillanteste Rhetorik, und daher unausweichlicher: Das macht den schwarzweißen Stummfilm La Antena für mich gerade aufgrund seiner unzeitgemäßen Machart zu einem äußerst treffenden und gegenwartsrelevanten Film.
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Quelle: Hendrik Schulthe/SchönerDenken