Nachtlektüre: Christopher liest „Kleist – eine Biographie“
Die Quellenlage ist überschaubar, ebenso das Werk des Dichters. Kleist-Biographen haben es dennoch schwer. Heinrich von Kleists Lebensweg ist mehrdeutig und führt durch unwegsames Terrain. Angesichts dieser Voraussetzungen ist die Veröffentlichung einer Kleist-Biographie publizistisch wie wissenschaftlich eine Herausforderung. Gerhard Schulz hat diese Herausforderung angenommen und auf ca. 600 Seiten den Lebensweg eines schwierigen Menschen neu vermessen.
Schulz lehrte als Germanist bis 1993 an den Universitäten von Melbourne, Adelaide und Perth und hat sich mit der deutschen Literatur zwischen 1789 und 1830 beschäftigt. Als Schüler und Nachfolger des Kleist-Forschers Richard Samuel (1900-1983) hat sich Schulz in Vorträgen und Publikationen wie „Über eine Sprachfigur und die Suche nach Wahrheit bei Heinrich von Kleist“ immer wieder auf die Spurensuche begeben. Heinrich von Kleists Leben fasziniert Wissenschaftler wie Schriftsteller. Existenzielle Konflikte gepaart mit impressiver Dichtkunst, Selbstzweifel und Exzentrität des Dichters sind dabei für viele Autoren sowohl Rohstoff als auch Inspiration gewesen.
In der Vergangeheit schwankten Kleist-Biographien zwischen Genie-Verehrung und Psychogrammen, zwischen patriotischer Verklärung und kritisch-reflexiver Gegenwartsanalyse. Schriftsteller wie Stefan Zweig sahen Kleist mit einem inneren Dämonen kämpfen. Für andere wiederum, wie Günther Blöcker, verkörperte Kleist „Das absolute Ich“. Die Beschreibung von Kleists Lebensweg geriet so für viele Autoren zu einer Art Rafting. Zu einer Wildwasserfahrt, in der sie sich an den zahllosen Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten Kleists abarbeiteten und sich sogar möglicherweise selbsterfahren konnten. Ungeklärte Fragen, unbekannte Aufenthaltsorte Kleists wurden so teilweise zu kunstvollen Konstruktionen zusammengefügt, in denen sich die Theorien und Interpretationen des jeweiligen Autors mit dem Lebensweg Kleists vermengen.
Die Forderung also lautet: Distanz zum Objekt, Distanz zu Heinrich von Kleist! Aber liefert eine reine Quellenanalyse angesichts einer sinnsuchenden Existenz verbindliche Antworten? Wie bereits erwähnt, macht Kleist es seinen Biographen nicht einfach: Früher Verlust der Eltern, verzweifelte Identitätssuche, unglückliche Liebe, dichterischer Geltungsdrang. Der Zugang zur Person Kleist setzt statt der spekulativen Suche nach Antworten vielmehr die Akzeptanz offener Fragen voraus. Ein Ansatz, dem Gerhard Schulz in seiner jetzt veröffentlichten Biographie Rechnung trägt. Aber schon bei der Auswahl der Quellen ergeben sich erneut Fragen. Wo ist Kleist am authentischsten? In seinen Briefen oder in seiner Dichtung?
Schulz schlüpft bei der Beantwortung dieser Frage in die Rolle eines Vermittlers. Zu recht weist der Autor auf den Unterschied zwischen dem Dichter und dem Menschen hin. Zwischen beiden gibt es Berührungspunkte, sind die Übergänge zeitweise fließend – Motive der Dichtung greifen auf persönliche Erfahrungen zurück, reale Eindrücke des Dichters finden sich ästhetisiert und verfremdet in seinen Dramen und Erzählungen wieder. Im Unterschied zu früheren Biographen stellen für Schulz dichterische und reale Wirklichkeit bei Heinrich von Kleist keinen Widerspruch dar. Beide sind für Kleist real und nur schwer von einander zu trennen. Ein Wesenszug des Dichters, der – wie Schulz überzeugend aufzeigt – sogar Verwandte und Freunde irritierte und für Konflikte sorgte.
Folgt man diesem Gedankengang, erschließen sich tatsächlich neue Einsichten. Vor allem für die frühen Jahre Heinrich von Kleists werden weitreichende Entwicklungslinien sichtbar. Grundlage für Gerhard Schulz ist dabei die minutiöse Auswertung der Korrespondenz Kleists mit seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge. Kleists Furcht vor einem „Amt“, seine Reisen nach Würzburg, Dresden und Paris, sein neunwöchiges Refugium bei Wieland, verlieren durch dieses Erklärungsschema an Mystik und werden teilweise auf anrührende Weise nachvollziehbar.
Keine Frage, Kleists Wesen bleibt auch für Schulz problematisch. Der Schöpfer der „Penthesilea“, des „Prinz Friedrich von Homburg“ und des „Michael Kohlhaas“ war ein Mensch der zwischen hochfahrenden Hoffnungen und niederschmetternden Depressionen pendelte. Eine Ursache hierfür: Kleists Fähigkeit zur Suggestion und damit auch zur Autosuggestion. Dieser durchaus auch für Zeitgenossen befremdliche Wesenszug trug in privater als auch künstlerischer Sicht die Gefahr der Realitätsflucht in sich. Die Auswirkungen dieses Verhaltens zeigt Schulz in den Briefen Kleists an seine Verlobte. Vertröstungsversuche, Versprechen und Selbstmitleid kennzeichnen den Inhalt dieser Briefe. Schulzes Verständnis für Kleist stößt hier an deutliche Grenzen, die sich aus dem menschlichen Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse einer jungen Frau ergeben. Nicht das frühe Genie wird hier von Schulz beschrieben, sondern ein irrender und irritierender junger Mann auf der Suche nach seinem „Lebensplan“.
Irritation und Mißverständnisse löste Kleist auch als Dichter aus. So zum Beispiel bei dem in Weimar residierenden Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe. Für Goethe, das Zentralgestirn seiner Epoche, blieb Kleist eine nur schwer in das klassische Koordinatensystem einzuordnende Erscheinung. Im Gegensatz zu früheren Darstellungen sieht Schulz allerdings das Verhältnis von Seiten Goethes weniger durch Ablehnung als vielmehr durch Unverständnis gegenüber der kleistschen Dichtkunst geprägt. Stattdessen rechnet Schulz Kleist eine Mitverantwortung zu, die er nicht zuletzt auf das verletztende Verhalten Kleists nach der mißglückten Uraufführung des „zerbrochen Kruges“ zurückführt. Aber auch jenseits von Weimar bleibt Anerkennung für Kleist ein knappes Gut. Weitere Werke, weitere Enttäuschungen folgten. Kleists Dichtkunst blieb zu seinen Lebzeiten unpopulär. Ob „Hermannsschlacht“ oder „Prinz Friedrich von Homburg“, Kleist blieb nicht zuletzt durch seine Wahrnehmungsfähigkeit, die auf die Unebenheiten im seelischen Terrain seiner Umwelt sehr sensibel reagierte, isoliert. Ein Zustand, der Heinrich von Kleist bis in den Tod begleitete.
Gerhard Schulz entwirft in seiner äußerst feinfühligen Biographie das Porträt eines begabten, überaus emotionalen Dichters. Heinrich von Kleist tritt dem Leser als moderner Mensch gegenüber. Seine Zweifel und seine Orientierungslosigkeit erscheinen uns heute vertrauter als seinen Zeitgenossen. Anders als im 19. Jahrhundert haben extremes, grenzüberschreitendes Verhalten ihre schockierende Wirkung auf uns weitestgehend eingebüßt. Verblaßt ist auch der Genie-Kult, der den Einzelnen metaphysisch überhöhte und damit aus der Gesellschaft heraus hob. Heinrich von Kleist von diesen beiden Hypotheken befreit zu haben, ist das Hauptverdienst von Gerhard Schulz.
Gerhard Schulz
Kleist – eine Biographie
(ISBN: 3406564879)
Beck-Verlag, München
Preis: 26,90 Euro