Götz verbringt einen Sommer mit Gantenbein, dem Grünen Heinrich, Brunetti und Kyros – dritter Teil (von vieren)
Hin und wieder musste ich also den Frisch-Roman zur Seite legen, ohne ihn allerdings ganz aufgeben zu wollen. Und dann griff ich zu Donna Leons Krimi „Blood from a Stone“: da hatte ich klassisches, lineares Erzählen, einen Helden, Kommissar Brunetti, der alles zusammenhält, keine Svobodas, Enderlins, Gantenbeins, Siebenhagens, kein multiperspektivisches Erzählen, allerdings ein Buch in englischer Sprache, was bei meinen Kenntnissen nur eine Lektüre in Häppchen zuließ.
Mag sein, dass man einen Donna-Leon-Krimi auf Deutsch an einem Abend lesen kann. Doch ich würde das niemals tun. Ich bin keine Leseratte. Länger als eine halbe Stunde am Stück vermag ich nicht zu lesen, entweder es ist ein schwieriger, anstrengender Text, den ich Satz für Satz studieren und bedenken muss, sodass ich bald erschöpft bin, oder es ist eine wundervolle Lektüre, deren Genuss ich hinauszögern möchte, oder es langweilt mich eben. Donna Leons Krimis sind übrigens viel besser im Original: bissiger, schärfer, pointierter, amüsanter. Während ihre Sprache in der Übersetzung oft etwas monoton und oberflächlich erscheint, ist sie im Amerikanischen abwechslungsreich, vielschichtig und flexibel. Nehmen wir als Beispiel allein den ersten Satz von „Aqua Alta“, dem Brunetti Nummer fünf: Im Original lautet er:
„Domestic tranquillity prevailed.“
In der Übersetzung wird daraus:
„Es herrschte friedvolle Häuslichkeit.“
Abgesehen davon, dass Attribut und Subjekt die Plätze getauscht haben, was den Sinn verfälscht (die wörtliche Übersetzung würde lauten: „Häusliche Ruhe herrschte vor.“) schwingt im Klang des Originals eine Atmosphäre des Luxus, des sinnlichen, geradezu raubtierhaften Wohlbehagens mit, immerhin sind wir ja in der Wohnung einer Operndiva in einem venezianischen Palazzo, während die deutsche Fassung eher an ein biederes Häuschen in der Provinz denken lässt. Noch ein weiteres Beispiel aus „Aqua Alta“ möge genügen. An dieser Stelle wird Flavia Petrelli, die Operndiva, charakterisiert:
“Flavia Petrelli has no comprehension of regret, but there was very little she didn´t understand about revenge.”
Auch hier schwächt die deutschsprachige Version die Aussage des Originals ab, raubt einiges von ihrer Dimension:
“Flavia Petrelli hatte wenig Sinn für Reue, aber um so mehr für Rache.“
Flavia hat nicht nur „wenig Sinn für Reue“, sie hat wörtlich übersetzt kein Verständnis für Reue und „es gab sehr wenig, was sie nicht von Rache verstand“. Die Übersetzung nimmt dem Satz die Spannung, fügt ihn zu einer Sinneinheit, die dem Original fehlt, denn es müsste dann ja Vergebung als gegensätzlicher Begriff zu Rache stehen. Aber ich verliere mich in Details.
Dann kam die Ferienzeit, der Tag der Abreise nahte und mit ihm die Entscheidung, welches Buch auf die Reise mitzunehmen war. Seit Monaten hatte ich die Idee, im Sommer in den Schweizer Bergen mal wieder Kellers „Grünen Heinrich“ zu lesen. Also gesellte sich der „Grüne Heinrich“ zu Gantenbein und Brunetti, mit denen ich ja noch zu Gange war. Immerhin verzichtete ich darauf, auch noch Derrick Jensens „Endgame“ (Untertitel: „Zivilisation als Problem“) einzupacken, einen backsteingroßen 500-Seiten-Wälzer über die verhängnisvollen Folgen von Kapitalismus und Globalisierung. Ich hatte mir dieses Sachbuch kurz zuvor mit Blick auf die Sommerferien gekauft und mich auch schon mit ihm in der Hand unter einem alten Birnbaum sitzen sehen. Jensen lebt in Kalifornien, ist Umweltschutzaktivist, Bienenzüchter, studierter Physiker und Philosoph. Er schreibt extrem provokant und polemisch, sein Stil ist nicht selten pubertär und ungeschützt, so war zumindest mein Eindruck beim ersten Hineinlesen. Also ich verzichtete – ein einziges Mal war ich weise – auf „Endgame“.
Trotz dieser Geste der Vernunft: Ich litt an der Krankheit der Parallellektüre. Ich wollte alles lesen und alles gleichzeitig und war mit nichts recht zufrieden. Abends vor dem Einschlafen hatte ich immer die Entscheidung zu treffen, von welchem Buch mir denn jetzt die Augen zufallen sollten. Manchmal las ich auch ein paar Sätze in dem einen und griff dann zu dem anderen. Wem es so gefällt, wer gerne Bücher um sein Bett herum stapelt, um jeden Abend ein anderes wählen zu können, bitte, beneidenswert, aber mich belastet das. Immerhin war ich froh, den „Grünen Heinrich“ dabei zu haben, Ich erinnerte mich wieder einmal daran, wie ich als Student während der Wochen eines Sprachkurses in Südfrankreich „Lord Jim“ von Joseph Conrad gelesen hatte.
Jeden Morgen hatte ich vor Kursbeginn ein kleines Café in der Nähe des Studentenwohnheims betreten – ich war immer der einzige Gast – hatte mich immer an denselben Tisch gesetzt, mir einen Milchkaffee und ein Croissant bestellt und einige Seiten im „Lord Jim“ gelesen. Ein seliges, langsames Lesen war das gewesen, ohne jegliche Ungeduld. Der „Grüne Heinrich“ hat natürlich auch alle Qualitäten, um sämtliche Literaturneurosen zu heilen und die Langsamkeit wieder ins Recht zu setzen. Dennoch, die Woche in den Schweizer Bergen verging wie im Flug und ich war kaum bis zum dritten Kapitel von Kellers Lebensbuch vorgedrungen. Zuhause verschwand der „Grüne Heinrich“ erst einmal wieder an seinem Platz im Regal …
(Morgen geht es weiter)