Zweiter Teil: „Tiraden von unerforschlichen Dingen“
von Götz Kohlmann
Podcast 43
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Rückblende: „Arrowhead“ nennt Melville die Farm in den Berkshires nördlich von New York, die er sich 1850 mit Hilfe seines Schwiegervaters kauft. Er nennt sie so nach den Pfeilspitzen, die er dort beim Umgraben der Erde gefunden hat, Spuren der einst ansässigen Indianer. Kaum eingerichtet, genießt er den „Indian Summer“:
„Der Tag wirkte mit seinem Leuchten geradezu byzantinisch – am Firmamente spiegelten sich die Farben der Oktoberäpfel im Obstgarten – nein, der Himmel selbst sah so reif & rotwangig aus, dass die Engel jetzt wohl Ernte halten & der Große Wagen hoch wie der Saddleback mit den Garben des Herbstes beladen ist. – Sie sollten die Ahornbäume sehen – Sie sollten die jungen winterharten Kiefern sehen – das rote Lodern der einen im Kontrast zu dem gemalten Grün der anderen, und das Flammenmeer der Herbstesluft, die beide in Einklang bringt. Ich sage Ihnen, in diesen Wäldern wachsen Sonnenaufgänge & Sonnenuntergänge Seit an Seite, & vergehen augenblicklich in den fallenden Blättern.“
Die abgeschiedene Farm war jedenfalls der rechte Ort, um „Moby Dick“ zu schreiben:
„Jetzt, da der Boden mit Schnee bedeckt ist, kommt es mir auf dem Lande beinahe so vor wie auf See. Wenn ich morgens aufstehe, sehe ich aus meinem Fenster wie aus dem Bullauge eines Schiffs im Atlantik. Mein Zimmer gleicht einer Kajüte; & wenn ich des nachts einmal aufwache & das Kreischen des Windes vernehme, bilde ich mir ein, das Haus stehe unter zuviel Segel, & ich sollte besser aufs Dach steigen & den Schornstein abtakeln…“
Der Ort regt seine Phantasie so sehr an, dass er nach eigener Aussage, während er an seinem Meisterwerk sitzt, bereits zahlreiche künftige Werke entworfen hat, wie er gegenüber seinem Mentor, dem Kritiker und Publizisten Evert A. Duyckinck, prahlt. Er sprudelt vor Einfällen:
„Können Sie mir nicht etwa fünfzig schnellschreibende Jünglinge schicken, die über einen flotten Stil verfügen & nichts dagegen haben, ihr Handwerk zu vervollkommnen?“
„Mr. Adler, ein deutscher Gelehrter“: In den Monaten, bevor er Moby Dick zu schreiben begann, war Melville schon einmal unterwegs in Europa. Auf der Schiffspassage nach London führt er lange Gespräche mit einem Mr. Adler, einem deutschen Gelehrten, dessen Bekanntschaft er gemacht hat. Thema Nummer eins ist natürlich die Metaphysik, denn Melville ist wie immer
„bis zur Mündung geladen mit seinen Tiraden von unerforschlichen Dingen“,
wie es Duyckinck einmal nennt.
„Er steckt voll von der deutschen Metaphysik, & spricht viel über Kant, Swedenborg … Mit ihm bin ich bisher am meisten zusammengewesen.“,
schreibt Melville in seinem Tagebuch über Adler. Ähnliche Eintragungen kehren in den folgenden Tagen wieder:
„ Mit dem Deutschen, Mr. Adler, bis spät in die Nacht an Deck gewesen & vom ‚Festen Schicksal, Freien Willen, dem unbedingten Vorherwissen’ geredet.“ – „Wir redeten ständig über Metaphysik; … Hegel, Schlegel, Kant … wurden durchdiskutiert.“
Bewusst oder unbewusst, der größte metaphysische Roman der Literaturgeschichte bereitet sich vor. Sein Hang zu metaphysischen Spekulationen wurde Melville vor allem bei der US-amerikanischen Kritik zum Verhängnis, englische Kritiker gingen zeit seines Lebens wohlwollender mit ihm um. In den USA wurde das von ihm eingefordert, was noch heute als der große Vorzug der US-Literatur gerade auch gegenüber der zeitgenössischen deutschen Literatur gilt: Er solle sich
„wieder der Natur und dem Studium des Menschlichen hingeben.“
Und dieser Rat eines Kritikers in einer Rezension des „Confidence-Man“, Melvilles letztem Roman, wird ergänzt durch die Hoffnung, Melville werde sich auf seiner Reise durch die „Alte Welt“
„richtig erholen … , um uns wieder Bilder des wahren Lebens vor Augen zu malen“
(so wie in den Frühwerken, über die Melville aber geistig längst weit hinaus war). Wie sollte diese Wünsche auch einer erfüllen können, der sich für „deutsche Metaphysik“ begeistert, der von Köln schwärmt, als einer
„uralten, spitzgiebligen Stadt – wo alles an das Mittelalter & Karl den Großen erinnert“ und wo es „gar manches gibt, was einen grübelnden Mann wie mich interessieren kann.“ Einer wie Melville, der „süße Träume vom Rhein“ hat und „mindestens zwei Stunden genau an der Stelle (steht), wo Rhein & Moselle sich vereinigen.“
Amerika musste so ein schwerblütiger Grübler, der sein Denken an der europäischen Geisteswelt schulte und den angelsächsischen Positivismus nicht teilte, fremd sein.
Die Kluft zwischen Melville und der amerikanischen Öffentlichkeit, die seine frühen Erlebnisromane aus der Südsee geliebt hatte, brach mit „Moby Dick“ unüberbrückbar auf. Die junge, aufstrebende, grundsätzlich optimistische Nation wollte nicht, und sei es in noch so verschlüsselt-allegorischer Form, hören, dass ihr Fortschrittsgeist vom Scheitern bedroht, ihre Naturausbeutung schuldbehaftet, ihre Religionspraxis entmündigend, ihr Machtanspruch vermessen war. Kein Zweifel, die Pequod samt ihrer in allen Hautfarben schillernden, von allen Erdteilen zusammengewürfelten Mannschaft ist Amerika. Und wie könnte ein weißer Wal den Sieg über Amerika davontragen?
Entscheidender für den Misserfolg war aber wohl die in den Augen der Zeitgenossen krude, überspannte Mischung aus Abenteuergeschichte, Drama, philosophischer Spekulation und Enzyklopädie. Was jedoch vordergründig die Erzählung zu sprengen scheint, ist auf einer zweiten Ebene bis in den kleinsten Winkel des Buches einer einzigen Idee untergeordnet. Man kann den Roman durchgängig im Sinne dieser Idee lesen, muss es aber nicht; er lässt zahllose Assoziationen, Parallelen und Deutungen zu. Immer wo es in der amerikanischen Geschichte um Hybris, besinnungslose Rache und Scheitern ging, war der Vergleich mit Ahab und seiner fanatischen Jagd zur Stelle – zuletzt nach den Anschlägen des 11. September und dem daraufhin begonnenen Krieg gegen den Terror.
Doch die sachlichen Passagen über die einzelnen Walgattungen, die industrielle Verwertung des Meeresriesen, über das Handwerk der Walfänger und Seeleute usw. – sie sind zwar mit persönlicher Erfahrung getränkt, wissenschaftlich fundiert und gut recherchiert, doch Melville wäre nicht Melville, wenn er ihnen nicht einen geheimen Sinn eingewoben hätte, der sie zu Bausteinen einer gewaltigen Allegorie der metaphysischen Sehnsucht, der Rätselhaftigkeit des Daseins, der Suche und der Verzweiflung der Menschheit macht. Vielleicht ist daher der tiefste Erkenntnisgehalt des Buches gerade in den scheinbar dokumentarischen Abschnitten verborgen.
Da er also in nie zuvor da gewesener und niemals wieder eingeholter Art und Weise von den letzten Dingen handelt, gibt es keinen Roman in der Weltliteratur, der eine solche Lücke hinterlassen würde, wenn es ihn nicht gäbe, wie Moby Dick. Stopfen wir also auch ein paar Hemden in den alten Seesack, klemmen ihn uns unter den Arm und brechen wir mit Ismael auf, wandern wir entlang der fröhlich sprudelnden Bäche, die hinab zum Meer führen, kommen wir in der Finsternis in einem Hafenstädtchen an, teilen wir das Bett mit einem Harpunier wie Queequeg, schließen wir Freundschaft mit dem tätowierten Wilden, stechen wir in See mit dem ehrfürchtigen, vorsichtigen Starbuck, dem unbeschwerten Stubb, dem überlebensgroßen, biblischen Ahab und tanzen wir zum Tamburin des kleinen, ängstlichen Pip. Und wer nicht aufbrechen mag, der blättere und lese irgendwo, vielleicht das 132. Kapitel, wieder und wieder dieses 132. Kapitel, im Original heißt es „The Symphony“.
Ein Beitrag von Götz Kohlmann
Sprecher: Axel Weiss
Moby Dick auf der Bühne
“Von Möwen und Walen; oder: Moby Dick” ist zu sehen in den Mainzer Kammerspielen, Termine: 23. Mai, 24. Mai.
Hier die Autoren im Videointerview (inkl. Probenausschnitte) und eine Lesung aus dem Stück und hier das komplette Audiointerview.