Christopher Henkel besucht die Gerhaert-Ausstellung im Liebighaus
Noch bis 8. Juli 2012 im Musée de l’Œuvre Notre-Dame in Straßburg zu sehen!
Ein Holländer, der eigentlich Deutscher war, und in einer Stadt lebte, die heute zu Frankreich gehört. Geschichte geht seltsame Wege und wenn man Glück hat, verdichten sie sich in einer Person. Der wahrscheinlich um 1430 in Leyden geborene Nikolaus Gerhaert gehört dazu. Bewundert, vergessen und wiederentdeckt – das Liebighaus in Frankfurt feiert den „Bildhauer des Mittelalters“ mit einer Ausstellung. Gerhaert, so lernt man hier, war nicht irgendeiner, er war Ausgangspunkt und Orientierung. Bildhauerei und Holzschnitzkunst im 15. und 16. Jahrhundert sind ohne ihn kaum denkbar. Zunächst neidisch beäugt, dann verehrt, verlieren sich die Spuren seines Schaffens in den nachfolgenden Jahrhunderten im Dunkel.
Meister des Plastischen
Der Meister des Plastischen tritt in den Schatten eines Tilman Riemenschneider, eines Veit Stoß. Sein Oevre fällt den Kriegen und Umwälzungen der heranbrechenden Neuzeit zum Opfer. Nur weniges bleibt erhalten. Diese Wenige aber begeistert und mit ihm öffnet sich eine Tür zu einem ganz außergewöhnlichen gestalterischen Feingefühl.
Gerhaerts Künstlertum zeigt sich im ganz eigenen Umgang mit dem Material. Stein wird nicht nur behauen, er wird modelliert, kontrastiert, frasiert. Oberflächen werden hervorgehoben, andere bleiben nahezu unbehandelt, wirken vernachlässigt und heben doch gerade so Sehenswertes hervor. Der Blick des Betrachters changiert, wechselt vom perfekt Ausgearbeiteten zu lässig, nur oberflächig Angedeutetem, um sich schließlich in einem Gesamteindruck zu bündeln, der die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten dieses Künstlers offenbart.
Bürger und Künstler in und um Straßburg
Nikolaus Gerhaerts Werk füllt gerade mal zwei Ausstellungsräume, das ist wenig und doch ist es das, was der Nachwelt überliefert wurde. Der Bildhauer tritt uns heute mit einem fragmentierten Werk gegenüber. Doch auch dieses Wenige vermittelt eine Ahnung von der ursprünglichen Dimension. Gerhaert war wohl ein fleißiger Mann, das zeigen die erhaltenen Aufzeichnungen seiner Auftraggeber. Trier, Wien, Konstanz und vor allem Straßburg wurden Wirkungsstätten. Nicht selten, so scheint es, arbeitete er an mehreren Aufträgen gleichzeitig.
Zentrum dieses so emsigen Schaffens wurde für den aus Leyden Zugewanderten Straßburg. Die Stadt am Oberrhein war günstig gelegen und bot dem Neubürger ein reiches Betätigungsfeld. Straßburgs kulturelles Leben profitierte von seiner Wirtschaftskraft. Handwerkliche Tradition und ein aufstrebendes Bürgertum taten ihr übriges. So war es wohl nicht schwer für den begabten Bildhauer vom Niederrhein Aufträge zu erhalten und diese in seiner Werkstatt oder vor Ort auszuführen.
Kunst auf Augenhöhe
Von hier aus gestaltete er zum Beispiel die Grabplatte des Jakob von Sierck. Der Erzbischof und Kurfürst von Trier wandte sich um 1462 an Gerhaert und erteilte ihm den Auftrag, seinen Nachruhm in Stein zu meißeln. Gerhaert tat dies auf seine eigene Weise und setzte dem Reichskanzler Friedrichs III. ein lebensnahes, lebendiges und beinahe atmendes Denkmal. Beispiele dieser Art weckten Begehrlichkeiten und so wundert es nicht, dass der Künstler bereits zwei Jahre später mit einem Epitaph des Kanonikers Busang im Straßburger Münster auf sich aufmerksam macht. Busang, kurzzeitig Bischof in Straßburg, findet sich wohlgenährt und selbstbewusst – zusammen mit Maria und dem Christuskind abgebildet – wieder. Gerhaerts Darstellung, der sich hier wohl von niederländischen Einflüssen inspirieren ließ, erinnert an Kompositionen Jan van Eycks. Auf Augenhöhe und ohne gekünstelte Demut treffen hier der Auftraggeber und die Heilige aufeinander.
Unterwegs in „Deutschland“
Neben der erinnernden Auftragskunst kennt Gerhaerts bildhauerisches Schaffen aber auch den spektakulären Auftritt. Bekanntestes und weithin sichtbares Beispiel hierfür ist das von Gerhaert 1467 geschaffene sechs Meter hohe Kruzifix von Baden-Baden. Aus einem Block gearbeitet, wie alle seine Kunstwerke, überwältigt die expressive Ausstrahlung des ans Kreuz geschlagenen Christus. Auch hier wieder eine Mischung aus dramatischer Detailtreue und kontrastiver Oberflächlichkeit. Dass Gerhaerts Wirkungsgebiet nicht nur auf den Oberrhein beschränkt blieb, zeigen Holzschnitzarbeiten, die in Nördlingen entdeckt wurden. Anmutig und wie in der Bewegung erstarrt legen die ebenfalls 1462 entstandenen Figuren des Stankt Georg und der Maria Magdalena Zeugnis von der handwerklichen Perfektion des Bildschnitzers ab. Gerhaert, der die Figuren wahrscheinlich in Straßburg bemalen ließ, zeigt damit, dass es seine Ausdruckskraft vermochte, sich in unterschiedlichen Materialen zu artikulieren. Davon zeugt auch die zwischen 1467 und 1473 für Kaiser Friedrich III angefertigte Grabplatte. Gerhaerts schlug das Bildnis des deutschen Kaisers in härtesten Mamor. Tiefer und kontrastreicher als seine Zeitgenossen es vermocht hätten, verewigte er das Bildnis seines Auftraggebers in Stein und verzierte es reichhaltig.
Auf der Durchreise: Gerhaert im Liebigmuseum
Gerhaert in Frankfurt ist eine Wiederentdeckung. Das Frankfurter Liebigmuseum, international bekannt für seine Skulpturensammlung, öffnete mit dieser Ausstellung eine Tür und förderte Vergessenes zu Tage. Sichtbar wurde ein Künstler fernab allem Manieristischen. Einer, der nicht nur seine Zeit sondern auch nachfolgende Generationen prägte. Oberrheinische Bildhauerei, zweifelsohne ein Spezialgebiet der Kunstgeschichte, und niederländisches Selbstverständnis finden in den Darstellungen von Niclaus Gerhaert zu einer lebensnahen und eindrucksvollen Symbiose und legen damit zugleich Zeugnis für die immer wieder überraschende Ausdrucksvielfalt mittelalterlicher Kunst ab. „Der Spätherbst des Mittelalters“, historisch nicht immer greifbar, gewann mit der Ausstellung von Gerhaerts Werk im Frankfurter Liebigmuseum an Gestalt. Die kleine, ebenso liebevoll wie unspektakuläre Präsentation eines weithin Vergessenen verließ am 4. März Frankfurt in Richtung Straßburg. Sie ist nun vom 30. März bis zum 8. Juli 2012 im Museum Œuvre Notre-Dame zu sehen.