Götz über Salinger, Scheinriesen, Leuchttürme und Kuchen
Wie Pech und Schwefel haben sie offenbar in Cornish/New Hampshire zusammengehalten, um J.D. Salinger darin zu unterstützen, zum berühmtesten Unsichtbaren der Literaturgeschichte zu werden. Nun, nachdem er mit 91 Jahren gestorben ist, ist die Lust zu plaudern umso größer. Den ausgeschwärmten Reportern haben sie erzählt, dass „Jerry“ im Dorf bestens integriert war: Er „war einer von uns“, wird die Bibliothekarin zitiert. Die Einkäufe habe der Schriftsteller selbst erledigt und so gut wie nie habe er beim Roastbeef-Dinner der Kirchengemeinde im nahen Hartland gefehlt. Salinger sei immer an einem der Tische in der Nähe der frisch gebackenen Kuchen zu finden gewesen.
Die „Süddeutsche Zeitung“ hat daraus in ihrem allzeit grandiosen „Streiflicht“ in unnachahmlicher Weise den Schluss gezogen, dass Salinger also kein Grantler und Eremit war, wie es jahrzehntelang kolportiert wurde, sondern „der Mann, der stets in Kuchennähe saß“. Was aber auf den ersten Blick das klare Wasser der Legenden mit Thermoskannenkaffee zu trüben scheint, trägt auf den zweiten Blick erst recht dazu bei, Salinger zu den großen „Heiligen“ der amerikanischen Kultur zu gesellen, zu Abraham Lincoln oder Mark Twain.
Schon John Ford hat in seinem Film „Der junge Mr. Lincoln“ das Kuchenbuffet dazu benutzt, um am Mythos des volksnahen großen Mannes zu meißeln. Henry Fonda als Lincoln wird da zum Kuchentester auserkoren und soll entscheiden, welcher der backenden Damen im Dorf denn der erste Preis gebührt. In jeder Hand ein riesiges Stück Kuchen, wechselweise genießerisch hineinbeißend, vermag sich Lincoln überhaupt nicht zu entscheiden und findet alles lecker – Ford gibt so einen humorigen ersten Hinweis auf den unbestechlichen Gerechtigkeitssinn des künftigen Präsidenten, der im Lauf des Films sich dann noch bei wahrhaft existenziellen Prüfungen zu beweisen hat. Die „Kuchen“-Anekdote wird also kaum zu Salingers Entmystifizierung beitragen, im Gegenteil. Zumal er, wie berichtet wird, gewöhnlich lange vor Beginn der Veranstaltung eintraf und sich die Wartezeit mit Notizen (!) vertrieb. Ein bauernschlauer, perfider Hinweis, der nun den amerikanischen Literaturbetrieb ganz fuchsig macht: was schrieb Salinger am Kuchenbuffet? Ein Schriftsteller arbeitet eben immer, auch dann, wenn er den Stift zur Seite legt und Kuchen isst.
Man lernt jedenfalls aus diesen posthumen Indiskretionen auch einiges über die Diskrepanz zwischen Medienwirklichkeit und wirklicher Wirklichkeit. Während in unseren Augen, den Augen der all die Jahrzehnte von spärlichen Informationen, Gerüchten und Mutmaßungen abhängigen Leser, der Schriftsteller Salinger zur sagenhaften Gestalt wurde, war er in Cornish einfach „der gute alte Jerry“, den man im Supermarkt treffen konnte, ein Mensch, der sich möglicherweise wohl fühlte unter Mitmenschen, die sich für seinen Ruhm außerhalb der Wälder und für die Literatur überhaupt nicht interessierten. Erinnert er nicht an Herrn Tur Tur, den Scheinriesen, aus „Jim Knopf“, der, aus der Ferne ein Riese, im Näherkommen mehr und mehr auf Normalformat schrumpft, um sich zugleich auch als freundliches, sensibles, aber auch einsames Wesen erkennen zu geben. Spätestens wenn die ersten Manuskripte aus dem Nachlass veröffentlicht werden, wird allerdings Salinger wieder zum Riesen wachsen, so wie Herr Tur Tur schließlich als Leuchtturm seine Bestimmung findet.
Es scheint, als habe es Salinger in gewissen, intellektualisierten Literaturkreisen etwas schwer, weil sein bisher bekanntes Werk doch recht leicht lesbar ist. Aber auch Tolstoi ist leicht lesbar. Und wer würde an Tolstoi herummäkeln. Leicht zugänglich zu schreiben und dennoch Klassiker zu produzieren, das ist doch das Höchste, was man in der Literatur erreichen kann, scheinbar einfache Oberfläche und große Tiefe – das Eisbergprinzip also – der Gipfel aller Kunstanstrengungen. Schwer zugängliche Bücher kann nämlich jeder schreiben, der nur genügend Sitzfleisch hat.