Über Kopfschmerzen, Filmkonventionenund die Erfüllung von Herzenswünschen,unter besonderer Berücksichtigungder StVO

… kurz: Hendrik versucht’s mal mit Drive

biginjapanBIG IN JAPAN: SchönerDenken berichtet vom Filmfestival „Nippon Connection“ und widmet auch sonst den ganzen April der japanischen Kultur:

Falls bereits eine allgemein anerkannte Definition des Filmgenres „Roadmovie“ existiert, kenne ich sie nicht, zumal ich mich bislang für nur wenige angebliche Paradebeispiele dieser Gattung erwärmen kann. Sofern jedoch in dieser Definition die Idee eine Rolle spielt, die Protagonisten eines Films ihre inneren Erlebnisse und Veränderungen auch im wörtlichen Sinne ‚erfahren‘ zu lassen, stellt der japanische Film „Drive“ von 2002 tatsächlich ein Roadmovie dar – und zwar mit nur einer Ausnahme unter strenger Beachtung der Gesetze und Regelungen der japanischen Straßenverkehrsordnung. Diese Besonderheit ist nicht nur eine zufällige (und für einen kurzweiligen Streifen nicht gerade vielversprechend klingende) Ingredienz des Filmes, sondern in gewisser Weise sogar ihr Dreh- und Angelpunkt.

Der Angestellte Asakura

Das hat mit der Hauptfigur des japanischen Angestellten Asakura zu tun, den wir bei einem Arzttermin kennenlernen, weil er unter ständig wiederkehrender Migräne leidet. Dies scheint zunächst seine einzige Schwäche zu sein – ansonsten ist der steifkorrekt gekleidete Außendienstler ein wie mit einem inneren Uhrwerk ausgestatteter Perfektionist. Dass sich hinter solch beschlipsten Menschen in der Regel Abgründe verbergen, ist nicht erst seit Michael Douglas schlichte Filmkonvention. Einen ersten Hinweis auf die Richtigkeit dieser Annahme erhalten wir mittels einer Rückblende, in der davon berichtet wird, dass Asakura als kleiner Junge zum Vollwaisen geworden ist – sein von der Samuraitradition begeisterter Vater hat sich nach einem Bankrott erhängt, seine Mutter hat sich von einer Klippe gestürzt.

Und irgendwie (wie genau, erfahren wir im Laufe der 100 Minuten) ist aus dem kleinen Jungen von damals ein schweigsamer, nach Ordnung und Perfektion strebender Mann geworden. Selbst die Bankangestellte, die er in der Mittagspause vom Auto aus beobachtet, weil er in sie verliebt ist, stellt ihre Uhr nach ihm. Und natürlich springen die drei Räuber, welche gerade die Bank, vor der er dabei parkt, ausgeraubt haben, ausgerechnet in seinen penibel sauberen Mittelklassekombi.

Der Fahrer ihres ursprünglichen Fluchtautos hat nämlich den Moment, in dem die Beute schon im Auto war, seine Begleiter aber noch nicht, genutzt und ist abgehauen. Plötzlich hat Asakura ein Messer am Hals und soll die Verfolgung aufnehmen. Weil er aber nunmal ist, wer er ist, hält er sich auch jetzt streng an alle Verkehrsregeln und schleicht durch die Stadt wie ein Fahrschüler bei der Abschlussprüfung. Seine Entführer verzweifeln, und wir wissen: Aha, wir befinden uns eindeutig in einer von diesen Komödien.

Die Geschichte hinter der Geschichte

Denkste. Denn das Schöne an „Drive“ ist, dass es dem Regisseur Sabu (eigentlich Hiroyuki Tanaka) gelingt, dem an sich abgegriffenen und zumeist banalen Format der Gauner-auf-der-Flucht-Komödie ein paar recht quere und reizvolle Facetten hinzuzufügen, ohne dass der Film sich ins Beliebige verfährt. Im Gegenteil: Sabu versteht es, im weiteren Verlauf mit den entsprechenden Konventionen und Erwartungen des Zuschauers gekonnt zu spielen, indem er ihm nun allmählich die eigentliche Handlung des Filmes – die Geschichte hinter der Geschichte – enthüllt.

Denn nicht nur Asakura hat eine eigene Geschichte hinter seiner strengen Fassade, auch jeder seiner drei Begleiter hat einen Hintergrund, ein Motiv, einen Traum. Und was gibt es Besseres, jemanden kennenzulernen, als indem man seine Sehnsüchte und Wünsche offenbart?

Wünsche und Sehnsüchte

Diese Gelegenheit bekommen wir, nachdem Asakura – wieder so eine erfüllte Filmkonvention – zufällig zum Mittäter geworden ist (und man kann die lebensbedrohlichen Eigenschaften von Rotwein und Kugelschreibern gar nicht genug betonen) und sich jetzt alle vier auf der Flucht vor der Polizei befinden. Denn nun stolpert (im wahrsten Sinne des Wortes) der erste der drei natürlich eigentlich gar nicht so unsympathischen Räuber unvermittelt ins Rampenlicht einer völlig neuen Rolle hinein – übernimmt sie nach kurzem Zögern, schlüpft in sie hinein, findet sein Glück und verschwindet.

Nun wissen wir: Der weitere Film wird daraus bestehen, dass jeder der jetzt noch drei Verbliebenen einer nach dem anderen eine ähnliche Begegnung mit seinen Wünschen und Sehnsüchten haben wird. Und mit seinen Ängsten, in die wir in Form von Phantasien und Traumsequenzen hineinblicken, und bei denen der Regisseur sich der Requisiten aus Historien- und Horrorszenarien bedient hat.

Der zwischenzeitlich fast vergessene, seinen Kumpanen gegenüber untreue vierte Räuber, der ja auch das ganze schöne Beutegeld hat, ist übrigens aufgrund eines schon fast surrealistisch dämlich anmutenden Fehlers nicht weit gekommen und somit beim – wiederum ganz der besten traditionellen Eigendynamik von Road- und Gangstermovies folgenden – Showdown nicht fern.

Stirb-und-Werde-Durchgangsritus

Unschwer zu erraten, dass der Held dieses Kampfes Asakura heisst und seinen ärgsten Feind – nämlich seine eigenen größten Ängste besiegen muss, um bestehen zu können (hier taucht nun wieder das Samurai-Element auf). Doch auch dieser lange abzusehende Schluss bekommt von Sabu einen eigenen schönen Dreh, indem er den Fortgang einfach seiner Figur anvertraut. Es wäre nach diesem filmischen Stirb-und-Werde-Durchgangsritus eben einfach nicht Asakuras Art, mit einer Tasche voller Geld auf dem Rücksitz in einen wie immer gearteten Sonnenuntergang zu entbrausen. Die wichtigste Regel wohl einer jeden auch nur halbwegs runden Geschichte mit einem Helden darin besagt schließlich: Lasse den Helden nicht zum Helden werden, indem er zu jemand anderem wird, sondern indem er zu sich selbst findet. Und das gelingt Asakura – auf seine eigene Art.

Die Fäden der Geschichten

Das Schöne an „Drive“ ist unter anderem, dass der Film sich verschiedene Gangarten traut, und das beinhaltet durchaus auch Ruhemomente zwischen den schrillen und hektischen Szenen (und wenn ich an die Szene in der Küche von Asakuras Tante denke, meine ich schrill). Während zweitklassige Streifen sich in selbstverzehrender Hektik ständig selbst übertrumpfen zu müssen meinen, damit niemand bemerkt, dass es im Grunde gar keine Story gibt, lässt Sabu uns Zuschauern zwischendrin Zeit, neben der vordergründigen Handlung auch die Fäden der anderen Geschichten weiterzuverfolgen. Das sind zwar oft nur Andeutungen, die wir erstmal kurz überdenken müssen, bevor wir verstehen (mir ging es in der Szene mit der Frau im Krankenhaus so), aber zuletzt fügt sich alles elegant ineinander, und nur wenig bleibt ungeklärt. Auch die Migräne des Helden ist zuletzt geheilt.

Alles in allem habe ich „Drive“ sehr genossen. Vielleicht liegt das auch darin begründet, dass ich eben keine besondere Vorliebe weder für Road- noch Gangstermovies habe und auch mit asiatischem Kino nur auf der historischen Themenschiene („Der Kaiser und sein Attentäter“ und so) vertraut bin. So hat sich für mich die Konvention schön die Waage gehalten mit dem Gewöhnungsbedürftigen. In 100 Minuten Film ist kein einziges Auto explodiert und nur ein einziges Mal die erlaubte Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften übertreten worden – dennoch ist in „Drive“ wesentlich mehr und das wesentlich kurzweiliger geschehen, als es alle „Schnellen und Wütenden“ zusammen je fertigbringen werden.

Vielleicht mache ich doch noch meinen japanischen Filmguckerführerschein.

Ach, natürlich gibt’s eine Definition. Und etwas zu Hiroyuki Tanaka. Noch ein Alternativreview gefällig? Bitte.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 11. April 2007.

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