Houellebecqs Gedankenexperiment UNTERWERFUNG

Frauen in Burka, Foto: Tinou Bao Creative Commons BY 2.0 Frauen in Burka, Foto: Tinou Bao Creative Commons BY 2.0


Folge 777
Prof. Pu empfiehlt UNTERWERFUNG von Michel Houellebecq
Länge: 06:03


Fast wagte ich es nicht, über dieses Buch zu schreiben, über das so viel geschrieben und gesendet wurde, das medial so enorm präsent war, auch weil am Erscheinungstag des Romans das Attentat auf Charlie Hebdo verübt wurde. Aus vielerlei Gründen wollte ich es auch erst gar nicht, dann vielleicht später lesen. Es hat sich gelohnt. Das gleich vorweg.

Paris, 2023: Die französischen Präsidentschaftswahlen stehen an. François, lethargisch-misanthropischer Literaturwissenschaftler an der Pariser Sorbonne, Spezialist für Joris-Karl Huysmans, betritt morgens die Universität.

Vor der Tür meines Vorlesungsraums – ich wollte an jenem Tag über Jean Lorrain sprechen – versperrten drei Typen von rund zwanzig Jahren, zwei Araber und ein Schwarzer, den Weg. Heute waren sie nicht bewaffnet und wirkten eher ruhig. In ihrer Haltung lag eigentlich nichts Bedrohliches, aber man war gezwungen, zwischen ihnen hindurchzugehen, um in den Raum zu kommen – ich musste eingreifen. Ich blieb bei ihnen stehen: Sicher waren sie angewiesen worden, niemanden zu provozieren und die Lehrenden der Universität mit Respekt zu behandeln, so hoffte ich jedenfalls.
„Ich bin Professor an dieser Universität, ich muss jetzt meine Vorlesung halten“, sagte ich entschlossen in Richtung der Gruppe. Es war der Schwarze, der mir mit einem breiten Lächeln antwortete. „Kein Problem, Monsieur, wir haben nur unsere Schwestern besucht“, antwortete er und zeigte mit einer beruhigenden Geste in den Hörsaal. Mit „Schwestern“ konnte er nur die beiden nordafrikanischen Mädchen meinen, die nebeneinander oben links im Hörsaal saßen. Sie trugen schwarze Burkas, ihre Augen waren von einem Gitter geschützt, sie wirkten also völlig untadelig, schien mir.

Womit schon einmal klar wäre, dass es mittlerweile in Frankreich kein Verschleierungsverbot mehr gibt. Die Muslimbrüder verstehen es, durch karitative Einrichtungen in einem Land mit Massenarmut auch Wähler zu finden, die nicht islamischen Glaubens sind. Es gibt Strassenkämpfe in der Stadt, Übergriffe auf Wahllokale, gegen die rätselhafterweise niemand etwas Durchgreifendes unternimmt. Die Franzosen jüdischen Glaubens verlassen in Scharen das Land Richtung Israel, darunter auch François‘ junge Freundin, was ihn noch haltloser dem Alkohol zusprechen lässt.

Um den Front National zu verhindern, dessen Kandidatin Marine Le Pen die meisten Stimmen hat, wenden sich die Linken der Partei der „Bruderschaft der Muslime“ zu. Es folgen Tage des Verhandelns hinter verschlossenen Türen. Unsicherheiten überall, die Universitäten sind bis auf Weiteres geschlossen. François ist etwas kopflos aufs Land geflohen und sitzt in einem kleinen Hotel in der Nähe des Klosters, in das sich damals Huysmans in einer Krise zurückgezogen hatte.

Kurz nach vierzehn Uhr schlug dann die Nachricht wie eine Bombe ein: UMP, UDI und PS hatten sich darauf geeinigt, eine Regierungsvereinbarung für eine „erweiterte republikanische Front“ zu unterzeichnen, und schlossen sich dem Kandidaten der Bruderschaft der Muslime an.

Mohammed Ben Abbes wird französischer Präsident. An der Universität dürfen ab sofort keine Frauen mehr Vorlesungen halten. François bekommt ein Ruhegehalt, würde er konvertieren, bekäme er das Vierfache. Denn finanziert wird der Lehrbetrieb jetzt von Saudi-Arabien. Das Pariser Strassenbild beginnt, sich zu verändern.

Irgendwann kommt er von seiner irrlichternden Reise zurück nach Paris, besucht Rediger, den neuen Rektor der Universität, der ihm nahelegt, so wie er selbst, zum Islam zu konvertieren. Auch hat er – neben seiner langjährigen Ehefrau – bereits eine zweite, wesentlich jüngere Frau geheiratet, was den beziehungsunfähigen und einsamen François in seinen Überlegungen noch mehr ins Schwanken bringt. Rediger lebt in einem prachtvollen Haus, das einmal Jean Paulhan, dem Verleger der Zeitschrift „Les Temps Modernes“ gehörte, für die Sartre und Beauvoir schrieben. Paulhan war der Mann, für den seine Geliebte anonym „Die Geschichte der O“ verfasste, die Geschichte einer Unterwerfung. Deswegen wollte Rediger dieses Haus besitzen:

[…] für mich besteht eine Verbindung zwischen der unbedingten Unterwerfung der Frau unter den Mann, wie sie in Geschichte der O beschrieben wird, und der Unterwerfung des Menschen unter Gott, wie sie der Islam anstrebt.

Mit dem Buch Redigers, „Zehn Fragen zum Islam“ geht François nach Hause …

Michel Houellebecq spielt sehr geschickt mit den Ängsten vor Islamisierung und rechtsextremen Parteien. Sein Roman ist intelligent, satirisch, amüsant und ernsthaft bedrückend. Er stimmt sehr nachdenklich, ist aber kein politisches Manifest, eher eine Art „2023“ …
Absolut lesenswert.


Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: Petra Unger/SchönerDenken (Direkter Download der Episode über rechte Maustaste) 


Michel Houellebecq
Unterwerfung
Übers. von Norma Cassau und Bernd Wilczek
Dumont € 22.99
978-3-8321-9795-7


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