Tausendundein Film. Götz bringt uns besondere Filme nah – tausendundeinmal. Und pünktlich zu Weihnachten legt er uns Godard unter den Baum – das erste von drei Päckchen.
Zuerst Bogart (Bogart, französisch betont, das klingt wie Godard) und dann Belmondo, der sich in Bogart spiegelt, Bogarts Foto in einer Vitrine vor einem Kino in Paris betrachtet, und dessen Geste des mit dem Daumen über die Lippen Streichens imitiert. Godard beginnt sein Werk mit einem taumelnden Helden und Maulhelden, einem sympathischen „Looser“, der seinem Idol aus der Filmgeschichte nacheifert, Kino und Leben verwechselnd. Was Poiccard im Verhältnis zu Bogart ist, das waren die Nouvelle-Vague-Regisseure in ihren Anfängen im Verhältnis zu ihren Vorbildern aus Hollywood. Sie markierten den großen Regisseur.
Ein halbes Jahrhundert später ist Godard, der am 3. Dezember 80 Jahre alt wurde, nun selbst längst Filmgeschichte, Mythos, Ikone, so sehr er das auch immer zu verhindern suchte und noch sucht und so wenig es seiner Selbstwahrnehmung entsprechen mag. Belmondo eifert Bogart nach, Michel Poiccard der Coolness Bogarts, und obwohl er sie kopiert, entsteht ein neuer Mythos, derjenige Belmondos, der nämlich nicht wie Bogart spielt, sondern eben so, wie es nur Belmondo kann. So funktioniert Godards Kino: Er nimmt etwas beim Wort – hier in „Außer Atem“ die Rollenklischees und Strukturen des Gangsterfilms, geht ihm auf den Grund, spielt ironisch mit ihm und errichtet aus den Einzelteilen einen neuen Mythos.
Poiccard misst sich an Bogey, was falsch ist, weil er „bigger than life“ ist, wir messen uns an ihm oder an Patricia, was vielleicht ebenso falsch ist, aber der Preis der Illusion, der man sich einfach hingeben muss, selbst wenn sie gebrochen wird wie bei Godard.
Immerzu hinterfragt er Konventionen des Sehens, der Inszenierung, des Erzählens, Vorstellungen, politische Ideen und baut zugleich aus den Fragmenten neue bleibende, kanonische Bilder auf. Godard und seine Freunde von den „Cahiers du cinema“ hatten die Hollywoodregisseure zu Autoren erhoben, zu Künstlern mit eigener Handschrift innerhalb des Studiosystems. Sie schufen sich damit zugleich auch ihren eigenen Spielraum, um später überhaupt kreativ werden zu können als Filmemacher. Der kommerzielle Erfolg interessierte sie nicht. In Godards Worten:
„Wir haben den Namen des Autors unten weggenommen und nach oben gerückt. Wir haben gesagt: Er ist es, der den Film gemacht hat.“
Der legendäre amerikanische Talkmaster Dick Cavett konstatiert, als Godard 1980 Gast in seiner Show ist, verwundert, Godard habe doch das alte Hollywoodkino verehrt und über es geschrieben, aber nichts von dieser Kenntnis und Verehrung scheine Spuren in seinem Werk hinterlassen zu haben. Wo seien die Einflüsse von beispielsweise Hitchcock, Hawks und Ford, fragt Cavett. Sie hätten ihn nicht beeinflusst, antwortet Godard, geschockt und bewegt ja, aber nicht beeinflusst.
Die getönte Brille, die der junge Godard trug (oft auch eine Sonnenbrille), war wie ein Symbol für sein empfindliches Sehen, seine für alle visuellen Eindrücke reizbaren, hypersensiblen Augen – er dreht Filme aus dem Geist der Bewahrung und der Revolte, von Zitaten und Fundstücken durchwebte Collagen, kompromisslos, unversöhnlich, intellektuell und doch auch magisch, sanftmütig, elegant, romantisch, nie nach Effekten haschend.
Als ihn seine Frau und Darstellerin Anna Karina verließ, soll er zu dem befreundeten Regisseur Jean-Pierre Melville gesagt haben, der ihn wohl mit dem Hinweis zu trösten suchte, es gebe ja noch die künstlerische Arbeit: „Aber Jean-Pierre, ist das Leben nicht wichtiger als das Kino?“ Melville war über Godards Frage entsetzt. Doch Frage und Reaktion zeigen, was Godard als Künstler Melville voraus hatte. Er maß die Kunst am Leben, Melville maß alles an der Kunst.
Von Melville kann man auch erfahren, wie es zu Godards berühmten Jump Cuts in „Außer Atem“ kam. Der Film habe in der Rohfassung über drei Stunden gedauert und auf eine normale Länge gestutzt werden müssen. Godard habe ihn um Rat gefragt. Statt ganze Sequenzen, die unerheblich für die Handlung des Films waren, herauszuschneiden, so wie es bis dahin üblich war, wenn man kürzen musste, sei Godard auf den genialen Einfall gekommen, mehr oder weniger willkürlich innerhalb der Einstellungen zu schneiden.
Niemals wieder wird es einen Regisseur wie ihn geben. Das Kino ist tot – schon 1966 hat er es diagnostiziert, mit diesem provokanten Statement wie in allem allen voraus – aber es lebte noch einige Jahrzehnte weiter, brachte uns „Taxi Driver“, „The Deer Hunters“, „Syriana“, „Im Lauf der Zeit“, „Vorsicht Zerbrechlich!“, die Filme von Woody Allen und eben auch Godards Spätwerk (nachdem er in den 70er Jahren versucht hatte, seinen Ruhm auszulöschen). „Rette sich wer kann (Das Leben)“ von 1980 betrachtet er selbst als sein zweites Debüt. Von da an dreht er wieder mit fast der gleichen Regelmäßigkeit wie in den 60er Jahren, doch immer seltener kommen die Filme in die Kinos, selbst für eine Tour durch die Programmtheater findet sich in diesem Jahrhundert kein Verleih mehr. Seinem Ruhm tut es keinen Abbruch.
Dennoch, angesichts des Verlaufs seiner Karriere und des Weltenlaufs: Was blieb ihm übrig, als im Alter den Clown zu spielen, den Regisseur als Narren, so taucht er in seinem sterbensschönen, kryptischen, aber auch oft selbstironischen Spätwerk manchmal auf.
Sein bisher letzter Film von 2010 heißt „Film socialisme“: Man liest, es sei eine Meditation über das Kino, den Krieg, die Familie, Europa, die abendländische Kultur, ein fulminantes Essay, ein Fazit des 20. Jahrhunderts, eine Collage aus Bildern und Klängen. In der Dick Cavett Show sagt er über die Verschleifung und Schichtung von Bild und Ton in seinen Filmen: „You have to listen to the image and to look at the sound.“ Alles in diesem flüchtigen Strom aus Zitaten hat das gleiche Gewicht – sei es ein Schlachtgetümmel in einem Sandalenfilm oder eine dokumentarische Aufnahme aus einem Konzentrationslager.
Man müsse vergleichen, sagt Godard, es diene der Wahrheitsfindung. Seine Formel lautet: ein Ding und ein Ding, nicht ein Ding nach dem anderen. One plus One, so der Titel seines Films über die „Sympathy for the devil“-Aufnahmen der Rolling Stones. In „Film socialisme“ hat der Tennis-Maniac Godard auch der früheren französischen Profi-Tennisspielerin Catherine Tanvier eine Rolle gegeben, die dann in einem Interview mit „Arte“ erzählte, wie aufgeregt sie und wie anspruchsvoll und zugleich geduldig und liebevoll Godard war und in dem Interview sagt sie auch den schönen Satz:
„Godard dient dem Kino, während andere es nur benutzen.“
Der zweite Teil von „Godard ‚huit zéro“ erscheint an dieser Stelle am 31. Dezember 2010.