Götz mit einigen Anmerkungen zu Hanekes „Das weiße Band“.
Sehr zu recht, wie ich finde, wurde von den üblichen Verdächtigen im Podcast bemerkt, dass es sich jene Besprechungen zu einfach machen, die darauf verweisen, dass Hanekes Film den Versuch unternehme zu erklären, warum es in Deutschland zum Faschismus kam. Während ich den Film sah, habe ich kaum einmal daran gedacht, diese Verknüpfung herzustellen, obwohl ich zuvor davon gelesen hatte.
Haneke selbst hat betont, dass es ihm in universeller Perspektive um die Ursachen für Gewalt (wie er das auch schon in früheren Filmen untersucht hatte) und Totalitarismus ging, und nicht allein um die deutsche Variante. Von der im „Weißen Band“ dargestellten Gesellschaft führt schon daher keine direkte Linie zu Krieg und Nationalsozialismus, da es vergleichbare Strukturen, Mechanismen, Familienbande auch in anderen europäischen Gesellschaften gab. Man denke allein an manche Filme Ingmar Bergmans, die ein ganz ähnliches Psychogramm der schwedischen Gesellschaft zeichnen.
Schön ist der Gedanke, dass sich die „große“ Geschichte aus dem Alltag entwickelt. Allerdings kann man den Alltag auch als Gegenbild zur Geschichte begreifen, als Utopie, als das allzeit Unveränderliche, das der „großen“ Geschichte entgegensteht. Wahr ist auch: die Geschichte ist die Summe aller Biografien der jeweils zu einer Zeit lebenden Menschen. Doch wollen der Handwerker oder der Landwirt, der Pastor oder der Arzt Geschichte machen? Sie wollen zunächst einmal nur ihren Berufen in ihrem kleinen Lebenskreis nachgehen. Daraus entsteht keine Geschichte. Die weitaus größte Anzahl der Menschen hat mit dem, was man Geschichte nennt, nichts am Hut.
Muss man nicht also doch wieder zurückgreifen auf die Idee der Einzelnen, die Geschichte „schreiben“, indem sie die anderen auf ihren Weg zwingen oder für ihre Ziele begeistern? Gewiss, auch das Nichthandeln gestaltet Geschichte, die Fügsamkeit der Massen ist ein wichtiger und bedenklicher Faktor. Ist dieses Dorf Eichwald denn überhaupt repräsentativ für die deutsche Gesellschaft vor dem 1. Weltkrieg? Was ist mit den Städten, dem Groß- und Bildungsbürgertum, den von Industrien und Arbeiterklassen geprägten Regionen? Ein pervertierter Protestantismus, die Doppelmoral der Tugendfanatiker, die Gängelung und Fesselung natürlicher Triebe waren doch wohl nur Bausteine für das folgende Unheil.
Haneke lässt alles in der Schwebe, er lässt einfache Schlüsse nicht zu. Das ist die Größe des Films. Der Film übt keine Kritik und hat keine Botschaft. Alle sind schuldig-unschuldig: Opfer und Täter, Täter und Opfer. Nichts in der Figurenpsychologie ist schwarz-weiß gezeichnet. Auch der Pastor und der Arzt haben ihre guten Seiten. Es wäre nicht einmal falsch zu sagen, dass der Pastor seine Kinder liebt; er ist nicht ausschließlich Tyrann, wie die atemberaubenden Szenen um den verletzten Vogel deutlich machen, seine Rührung muss man sehen, als der Sohn ihm später den Vogel als Ersatz für den getöteten Vogel schenkt, eine Rührung, die er natürlich nicht zeigen will und sofort unterdrückt (klug von Haneke die Negativfigur des Pastors mit dem an sich sympathischen Typen Burghart Klaußner zu besetzen). Und die scheinbar so durchgängig positive Gestalt des Lehrers erhält hin und wieder einen Zug ins Kleinkarierte, Spießige. Indem er unbegreifliche, schreckliche Vorfälle aus dieser Dorfgesellschaft entstehen lässt, weist der Film durchaus voraus auf künftige Schrecken.
In gewisser Weise sind die Verbrechen Menetekel; es handelt sich um Verbrechen, die nicht von gegenwärtigen, sondern von zukünftigen Tätern begangen werden. Ich verließ das Kino dennoch etwas ratlos und vermisste die kriminalistische Auflösung, ich fragte mich auch, wo denn nun die umfassende Idee war, der Film verlor sich mir manchmal zu sehr in Miniaturen. Doch mit etwas Abstand muss ich zustimmen, dass der offene Schluss die richtige Entscheidung war (aber vielleicht gibt es ja doch einen versteckten Hinweis auf einen festzumachenden Täter).
Dieser ruhige, formal strenge, die Poesie der Schwarz-Weiß-Fotografie für Bilder von erhabener Schönheit und dokumentarischer Kraft neu entdeckende und mit einer ungeheuren Wahrhaftigkeit gespielte Film (einige Szenen: die Demütigung der Hebamme durch den Arzt, die schüchterne Annäherung zwischen dem Lehrer und dem Mädchen – übertreffen alles, was in den vergangenen Jahren im Kino zu sehen war) ist nicht zuletzt auch ein Film über die Gegenwart, denn so vieles, was dieser Film zeigt, ist nicht an eine bestimmte historische Realität gebunden. Wenn er also etwas kritisiert, dann unsere Zeit, wenn er eine Botschaft hat, dann die, dass wir auf unsere Kinder und die Kindheit überhaupt acht haben sollen.
Autor: Götz Kohlmann.
Text und Podcast stehen unter einer Creative Commons-Lizenz.
Quelle: Götz Kohlmann/SchönerDenken
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