Ein Zirkus, genauer ein Kuriositätenkabinett, kommt in die Stadt. Eine archetypische Ausgangssituation: Das Fremde bricht in das Vertraute ein, die große Welt erreicht die Kleinstadt. Charles Finney geht es in seinem kurzen Roman (174 Seiten) zuerst einmal um die Zuschauer, um ihre Erwartungen, Hoffnungen und Missverständnisse, die von der Ankunft der kleinen Zirkusparade ausgelöst wird. Hoffnung auf Reichtum und Abenteuer und das unbewusste Versprechen von Leidenschaft – zumindest für die Lehrerin Agnes Birdsong, die einen „Hermaphroditen“ angekündigt bekommt:
„Sie glaubte, einen Verdacht zu haben, annehmen zu können, was es bedeutete; sie entdeckte die Schatten des Gottes und der Göttin, doch ihre adjektivische Vermählung verwirrte sie. (…) Sie kehrte zu der Anzeige zurück und fragte sich wieder, welchen Eindruck wohl eine flüchtige Vision, durch ein Guckloch betrachtet, hinterlassen würde. Sie überlegte, wie in einem stickigen Zirkuszelt ein erotischer Traum eines schon längst untergegangenen Tages heraufbeschworen werden würde. Einen Augenblick lang wünschte sie, sie wäre ein Mann.“ (S. 22)
Was für uns wirklich ist, hängt davon ab, was wir wahrnehmen. Ist das ein Bär im Käfig oder ist es ein Russe? Darüber entbrennt ständig zwischen den Zuschauern Streit. Und es ist eine der wunderbaren wiederkehrenden Pointen, dass die größten Wunder, die der chinesische Zirkusdirektor Lao präsentiert, als Schabernack und Trick abgetan werden. Eine atemberaubende Werwolfverwandlung interessiert plötzlich nicht mehr, weil aus dem Werwolf eine alte, nackte Frau wird und kein verführerisches Mädchen. Großartig sind die mythischen Raritäten, die Dr. Lao eingefangen hat, aber im besten Fall lassen sie die Zuschauer verstört zurück. Die Fähigkeit verzaubert zu werden, haben die Bewohner der kleinen amerikanischen Stadt offensichtlich verloren. Aber wer ist eigentlich Dr. Lao? Er sagt:
„Die Welt ist meine Idee, als solche führe ich sie Ihnen vor. Ich habe meine eigenen Maße und Gewichte und meine eigene Rechentafel, um Werte festzustellen. Es ist Ihr Privileg, Ihre eigenen vorauszusetzen.“ (S. 142)
Welche Botschaft wollte Finney uns mit diesem Roman vermitteln? Er beantwortet die Frage nicht. Mir erscheint sein Buch als Plädoyer, sich auf das Leben einzulassen, wie es einem begegnet und neugierig zu bleiben auf das, was unbekannt ist und genießerisch an den wunderlichen Blüten der menschlichen Einbildungskraft zu schnuppern. Finney bescherte uns auf jeden Fall eine sprachlich überzeugende, lesenswerte melancholische Geschichte. Und wenn man glaubt, der Roman sei zu Ende, dann beginnen erst die wunderbaren Listen. Zum Beispiel die Liste der offenen Fragen:
„7. Was hatte der tote Mann, den Apollonius wieder zum Leben erweckte, so Dringendes zu erledigen?“ (S. 174)
Der Roman von 1935 wurde übrigens 1963 unter dem Titel „The Seven Faces of Dr. Lao“ verfilmt – mit Tony Randall in den sieben Hauptrollen, vor allem als Dr. Lao. Ein Blick auf das damalige Kinoplakat qualifiziert ihn schon fast für unsere Serie „The Future … revisited“.