Thomas und Hendrik besuchen Die Sphären von Iain Banks
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Die Romane des Culture-Zyklus von Iain Banks zeichnen sich durch, es lässt sich kaum anders sagen, erfrischende dimensionale Unverschämtheit aus. Natürlich gibt es eine Vielzahl gigantophiler Weltentwürfe in der Science Fiction – die planetengroßen Riesenraumschiffe von E.E. ‚Doc‘ Smith, Philip José Farmers Flusswelt, groß genug für alle Menschen, die seit Anbeginn der Zeiten jemals gelebt haben, und so fort.
Das Problem solcher Weitwinkelfiktionen besteht jedoch darin, dass man sich leicht darin verliert: was ist schon der heldischste Held, wenn er im Vergleich zu dem Universum, das ihn umgibt, nicht größer und bedeutender ist als ein Sandkorn, ein Einzeller, ein Makromolekül (mag es meinethalben ein Molekül aus reinem Rhodanium oder Kirkit sein). Es gelingt nur sehr wenigen ausgewählten AutorInnen, solche Dimensionen nicht nur zu ersinnen und auszufüllen (wozu deutlich mehr gehört, als nur hinter alle Größenangaben zwei Nullen mehr zu setzen), sondern sie erzählerisch anzubinden an die Erlebnisse von den Einzelschicksalen jener Figuren und Charaktere, ohne die ein Roman, und sei er noch so episch, einfach der Lebendigkeit und Lesbarkeit entbehrt.
Nun gibt es tatsächlich AutorInnen, die auch diese narrative Grundregel zu widerlegen versucht haben (wie dies allen je erdachten narrativen Grundregeln widerfährt), und das Ergebnis waren z.B. Chroniken der zukünftigen Menschheitsgeschichte, in denen Individuen, von denen eine Geschichte hätte handeln können, auf die Rolle als Träger historischer Anekdoten reduziert sind. Die Folge ist, dass z.B. Olaf Stapledons <Die letzten und die ersten Menschen> in dem Maße, in dem es sich als großer futuristischer Entwurf beweist, zögert, ein guter Roman zu sein.
Iain Banks hat diese Unvereinbarkeit begriffen und sich gar nicht erst vorgenommen, sein Universum allzu ernst zu nehmen. Das macht es ihm leichter, das ganz große Dimensionstor aufzumachen und uns mit einem Gefühlt-mehr-als-nur-360°-Panorama zu fesseln, gegen das die gewagtesten Fiktionen von Smith und Farmer ausgesprochen provinziell erscheinen:
Um Sursamen scharten sich Eigenschaften wie um andere Planeten Monde. Die Schalenwelt war arithmetisch, gefleckt und umstritten, verfügte über eine multiple Bevölkerung, Millionen jahrelange Sicherheit und einen Gott in ihrem Kern. Ein Volk namens Involucra hatte die Schalenwelten gebaut, vor fast einer Milliarde Jahren. Alle befanden sich in Umlaufbahnen stabiler Hauptreihensterne. Ursprünglich hatte es etwa viertausend Schalenwelten gegeben – 4096 wurde vermutet, da es sich dabei um eine Zweierpotenz handelte und eine solche Zahl bei vielen Leuten, aber keineswegs allen, als besonders rund galt. Die riesigen künstlichen Planeten waren in regelmäßigen Abständen an der galaktischen Peripherie positioniert worden und umgaben die ganze große Sterneninsel … [S. 93/94]
Und innerhalb dieser Dimensionen bewegen sich Banks‘ vielgestaltige ProtagonistInnen – Menschen, Insektoide, Wasserwesen, schwebende intelligente Urwälder, wenige Zentimeter lange künstliche Drohnen und exzentrische Großraumschiffe – mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit, die uns für die Dauer der Lektüre bereitwillig zu Illusionsjunkies werden lässt, die alles aufsaugen, was dem Kopf eines 54-jährigen Mannes entströmt, der irgendwo in Schottland vor einer Tastatur sitzt. Was ist das Geheimnis?
Die drei Geheimnisse des Herrn Banks (Hendriks Solo)
Für mich besteht das erste Geheimnis darin, dass Banks gar nicht erst versucht, diese ganze Metazivilisation der Kultur mitsamt ihren befreundeten und verfeindeten Spezies, ihrer künstlichen Raumorbitale, ihren Myriaden von Wesen und so fort in die Geschichte einzubinden. Er lässt es Hintergrund sein, Atmosphäre, beiläufige Prämisse, und während im Vordergrund eine wie immer geartete, aber stets überschaubare Handlung vonstatten geht (mögen deren Protagonisten auch schonmal mehrere Kilometer lang sein), so versucht uns die Erzählung nicht, den alten dramaturgischen Das-Schicksal-des-Universums-steht-auf-dem-Spiel-Overkill zu servieren, sondern sie akzeptiert ihren Status als etwas, was hier und jetzt dramatisch und wichtig und damit erzählenswert ist, obwohl man das Ganze vom nächsten Stern oder Jahrtausend aus kaum noch erkennen dürfte. Das verleiht den wahrhaft gigantischen Dimensionen des Culture-Zyklus spielerische Leichtigkeit, denn die Geschichte klebt nicht daran fest (und wird damit schwerfällig bis zur emotionalen Reglosigkeit), sondern sie darf sich davon Teile aussuchen und mit ihnen jonglieren.
Zu unser aller Leserfreude besitzt Iain Banks die Gabe, diese konzeptionelle Leichtigkeit auch stilistisch zu tragen, indem er sich ironische Spitzen und sogar running gags erlaubt, wie die in allen Culture-Romanen fortgeführte Liste der Namen, die sich die teils reichlich verschrobenen intelligenten Kulturraumschiffe geben (wie „Ich gebe meiner Mutter die Schuld“, „Leicht Angebraten Auf Dem Realitätsgrill“ oder „Das Machst Du Sauber, Bevor Du Gehst“):
Der Ursprung meines Namens „Der Hundertste Idiot“ ist ein Zitat“, hatte das Schiff geantwortet. „Hundert Idioten machen idiotische Pläne und führen sie aus. Alle versagen, bis auf einen. Der hundertste Idiot, dessen Plan durch reines Glück zum Erfolg führte, ist sofort davon überzeugt, ein Genie zu sein. Es handelt sich um ein altes Sprichwort. [S. 383]
Das verhindert zugleich, dass es überbetont gravitätisch und bierernst zugeht, was ja immer noch viele Universenschöpfer für die garantiert zündendste aller Dramenrezepturen halten, obwohl diese gegen die Antischwerkraft gekonnter Selbstironie natürlich nie ankommen werden.
Und dies ist das zweite Geheimnis: Banks nimmt seine eigene Schöpfung ernst, während er sie erzählt – er beachtet seine eigenen Regeln, erzählt bis ins Detail folgerichtig und schlüssig – , aber er scheut sich nicht, das in dem breitgrinsend genossenen Bewusstsein zu tun, dass die Illusion uns völlig genügt, und dass er auf bemühte Verankerungen in der Realität verzichten kann. Banks hat damit ein bißchen was von einem Gebrauchtwagenhändler, der weiß, das wir wissen, dass er uns etwas vorgaukelt, aber der auch weiß, dass wir zugleich glauben wollen, was er uns verspricht. Das Schöne an diesem Gebrauchtwagenhändler ist dabei, dass sich sein Sonderangebot zuletzt als noch besser erweist, als wir zu hoffen gewagt hatten.
Und dies ist, glaube ich zumindest, das dritte Geheimnis: Banks hat so überdeutlich spürbar einen Riesenspaß am Erfinden und Erzählen und Ausgestalten, dass das einfach ansteckt. Er erschafft eine Realität, und zugleich sieht er sie als Spiel – ein Spiel, das mehr Spaß macht, wenn man es ernst nimmt, ähnlich wie die Realität mehr Spaß macht, wenn man sie ein wenig als Spiel betrachtet.
Und mehr noch: Wie das Spiel, so die Geschichte des ganzen Universums, mit allem und jedem darin. So denkt sich jedenfalls Holse, eine der Hauptfiguren in Die Sphären:
Alles war bereits geschehen, und zwar auf jede nur erdenkliche Weise. Und es war nicht nur alles geschehen, was bereits geschehen war, sondern auch alles, was geschehen würde. Und nicht nur das: Alles, was geschehen würde, war bereits in jeder nur erdenklichen Weise geschehen, in der es geschehen konnte.
Auf den ersten Blick sah es aus wie völliger Wahnsinn. Doch wenn man genauer darüber nachdachte, erschien es kaum weniger plausibel als all die anderen Beschreibungen der Dinge, wie sie wirklich waren, und es hatte eine Art von Vollständigkeit, die jedem Widerspruch vorbeugte. Wenn man davon ausging, dass alle Möglichkeitsverzweigungen durch Zufall erfolgten, so passten die Dinge zusammen: Die wahrscheinlichen würden immer zahlreicher sein als die unwahrscheinlichen, und den absurden gegenüber weit in der Überzahl, was bedeutete, dass die Dinge, im Großen und Ganzen, so geschehen würden, wie man es von ihnen erwartete, mit gelegentlichen Überraschungen und sehr seltenen Momenten völliger Verwirrung.
Das Leben war ähnlich beschaffen, nach Holses Erfahrungen, was er irgendwie befriedigend, ein wenig enttäuschend und sonderbar beruhigend fand. Das Schicksal war nun einmal Schicksal, und damit hatte es sich.
Er überlegte sofort, wie man mogeln konnte.
[S. 525/526]
Aber worum geht es in Die Sphären überhaupt? Zunächst ein Hinweis: Ignorieren Sie den Klappentext, denn der stammt – wie offenbar oft beim Heyne Verlag – nicht wirklich von jemandem, der das Buch gelesen hat. Aber Thomas hat, ich übergebe also die Tastatur:
Leider nur sehr gut (Thomas‘ Solo)
Im Mittelpunkt steht die Schalenwelt Sursamen. Ein riesiges, planetenartiges, künstliches Gebilde, eine Hohlwelt mit sechzehn verschiedenen Ebenen. Von den Erbauern weiß man nichts, dennoch siedeln hier Millionen Menschen und andere Lebensformen. Auf einer der unteren Ebenen findet gerade ein Krieg statt und vor den Augen des Lesers geschieht ein Königsmord. Den Attentätern gelingt es, den Thron für sich zu reklamieren, der eigentliche Thronfolger muss fliehen. Dessen Schwester – günstiger Zufall – hatte vor vielen Jahren bereits ihre Heimat verlassen und hatte sich der Kultur angeschlossen – noch besser: sie wurde Agentin des Kulturgeheimdienstes „Besondere Umstände“. Dieser Dienst greift ein, wenn die Kultur sich nicht an den allgemeinen Nichteinmischungsvorsatz halten möchte. Bei Star Trek heißt so etwas Prime Directive:
Wir versuchen, den uns anvertrauten Völkern gegenüber gerecht zu werden, und deshalb nehmen wir Abstand von der immer leichten Möglichkeit des Eingreifens. Man könnte bei jeder sich bietenden Gelegenheit intervenieren, immer dann, wenn sich die Dinge nicht so entwickeln, wie es sich anständige, vernünftige Geschöpfe wünschen. Doch mit jedem Eingreifen – ganz gleich, wie individuell gut gemeint und scheinbar richtig – nimmt man den Leuten, denen man eigentlich helfen möchte, ein Stück ihrer Freiheit und Würde.
[S. 373]
Aber zurück zur Geschichte: Wir haben einen Thronfolger, der faul und ohne Verantwortungsgefühl, einen kleinen Bruder, der klug und sensibel ist, einen Diener mit gesundem Menschenverstand und eine Schwester, die als Topagentin für eine hochtechnisierte Zivilisation arbeitet. Ein Ensemble, das nicht gerade klischeefrei ist. Im Verlaufe des Abenteuers passiert, was passieren muss: Der Tunichtgut lernt Verantwortung, der Diener rettet den Tag, der kleine Bruder wird erwachsen und übersteht härteste Prüfungen, und die Schwester schließlich holt die Kavallerie – mehr oder weniger.
Zum ersten Mal habe ich mich bei der Lektüre eines Iain Banks-Roman gelangweilt. Und zwar immer dann, wenn der Tunichtgut-Protagonist im Mittelpunkt stand. Banks, der sonst für die tiefstmögliche Charakterzeichnung steht, bleibt bei einzelnen Figuren hinter seinen enormen Möglichkeiten zurück. Das ist zwar immer noch ein sehr guter Roman, aber eben leider „nur“ sehr gut.
Zu gewohnter Souveränität kehrt Banks zurück bei der Beschreibung der Besonderen Umstände und vor allem, wenn es um die politischen Hintergründe der Kriege geht. Eine der interplanetaren Auseinandersetzungen ist offensichtlich eine Farce, und alle, die ihr Leben riskieren oder opfern, sind nur Marionetten von übergeordneten Interessen im Hintergrund, erklärt Hyrlis, ein Ex-Agent der BU:
Oh, es herrscht gewiss kein Mangel an oberflächlich zufriedenstellenden und angeblich akzeptierten Rechtfertigungen, alles bestens geeignet, um Vorwände zu liefern und Zivilisationen wie die Kultur davon abzuhalten, einzugreifen und den Spaß zu beenden. Aber es ist alles falsch, das Ergebnis von Täuschung und Manipulation.
[S. 468]
Was uns daran erinnert, das wir selbst täglich – selbst beim Ansehen der Tagesschau – Opfer der Täuschung und Manipulation sind. Auch einer der Gründe, warum die Heldentaten und ihre letztendliche Belanglosigkeit in Banks‘ Romanen uns so fesseln: Weil sie im Kern unserer eigenen Lebenswirklichkeit entsprechen.
Lektoraler Nachsatz
Und wenn sich der Heyne-Verlag jetzt endlich noch kompetente Korrekturleser anschafft, ist alles in Butter. Leider finden sich auch in diesem Roman wieder zahlreiche Fehler, die darauf schließen lassen, dass man es bei Autokorrekturdurchläufen belässt, bei denen natürlich nicht auffällt, dass es wenig Sinn ergibt, wenn z.B. aus „verhassten“ Feinden plötzlich die „verharrten“ Feinde (S. 167) werden.
„Nein“, antwortete der Große Zamerin mit Nachdruck und setzte eine Duftwolke namens Zweifel an der geistigen Gesundheit eines Gesprächspartners frei, mit nur einem winzigen Hauch Humor.
„Nicht einmal im Abstrakten?“
„Nicht einmal im Abstrakten.“
[S. 183]
Links
Franz Birkenhauer empfiehlt nach der Sphären-Lektüre ältere Banks-Romane / eine Einführung in die Kulturromane von Peter Kaiser