PJ liest: Patrick Leigh Fermor: Rumeli, Reisen im Norden Griechenlands.
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Er erzählt – wieder einmal – von vergangenen Zeiten, von Ritualen und Sitten, die kaum einer noch kennt, von Begriffen, die vergessen sind, von einem Griechenland, das so nicht mehr existiert. Rumeli heißt die Region nördlich des Golfs von Korinth; Rumelien – ein Landstrich, den es schon lange nicht mehr gibt.
„Doch wenn ein heutiger Grieche von Rumeli spricht, dann denkt er noch immer an jene Gegend zwischen dem Golf von Korinth und der heute nicht mehr existierenden Nordgrenze. Reichlich willkürlich, reichlich anmaßend und nicht ohne Bedenken bin ich, vielleicht verführt von der Fremdartigkeit und Schönheit des Namens, als Etikett für die Reisen, die ich hier präsentiere, zu der älteren, unschärferen Bedeutung des Namens … zurückgekehrt …“
schreibt Patrick Leigh Fermor im Vorwort des Buches, das nun – ein Jahr nach seinem Tod – neu aufgelegt wurde. 1966 erschien es erstmals.
So taucht der Leser in die Welt archaischer Schafhirten, orthodoxer Mönche und kretischer Widerstandskämpfer ein. Er erlebt ein Griechenland, das bereits den Massentourismus kennt und dessen schroffe Landschaften schon gut erschlossen sind, so gut, dass der Reisende auf der Suche nach der Einsamkeit tief ins Hinterland vordringen muss.
Das tut Fermor und schon hat er den Leser am Haken, wenn er von den schwarzen Wanderern berichtet, den Sarakatsanen. Ein Hirtenvolk, das seit Urzeiten im Norden Griechenlands mit seinen Schafen nomadisiert, im Sommer auf den Bergflanken kampierte und im Winter seine Hütten aus Zweigen und Weidengerten im Tal errichtete – temporäre Unterkünfte eines stolzen Volkes, das sich nicht um Grenzen kümmerte. Er hat das Glück, an einer noblen Hochzeit teilnehmen zu dürfen – eine besondere Ehre und Anlass für die Hirtenfürsten, sich zu versammeln.
„Der Raum füllte sich mit schwarz gekleideten Gestalten. … Mit Ausnahme des Bräutigams, der im weißen Faltenrock an der Tür stand und die schwieligen Händedrücke und bärtigen Umarmungen der nach und nach eintreffenden Gäste entgegennahm, waren fast alle Anwesenden mittleren Alters oder älter. Einige schienen uralt, doch alle machten einen gesunden, sonnengegerbten Eindruck: groß, mit buschigen Brauen, weißem Schnurrbart, ehrwürdige, unverwüstliche Patriarchen, … , Hirtenhonoratioren aus ganz Thrakien. … Mit dieser Versammlung von alten Männer wirkte der Raum wie ein vornehmer und exklusiver Club. Ich konnte kaum glauben, dass ich endlich mit diesen geheimnisvollen, beinahe mythischen Menschen zusammen saß, …“
Fermor beschreibt fast übergenau ihre Kleidung, ihre Sitten und vor allem ihre Sprache.
„Die Worte klingen merkwürdig abgehackt und konsonantenreich. Um so schwerer war es der Unterhaltung zu folgen, als die Sarakatsanen ein großes und esoterisches Vokabular für all die Feinheiten ihres Gewerbes haben: für die Beschaffenheit und die Eigenheiten von Gras, für die Techniken des Hüttenbaus und des Glockenstimmens, für all die Verschiedenheiten von Schafen und Ziegen und Pferden und Hütehunden.“
Seine Begeisterung für diese Menschen, die sich angeblich nie waschen, so daß man sie nach ihrem Tod aus den Kleidern schneiden muß, wird verständlich, wenn er aufgrund sprachlicher Analogismen und anderer Hinweise zu der Vermutung kommt, daß die Sarakatsanen möglicherweise Abkömmlinge der Urgriechen sein könnten. Da mag man ihm folgen oder auch nicht, aber das Flair einer Reise ins Unbekannte, ein Hauch von Karl Mays „Durchs Wilde Kurdistan“ steigt aus den Buchseiten auf und man bleibt bei aller Detailverliebtheit Fermors gerne dran.
Gerne begleitet man ihn in schwindelnde Höhen zu den Meteora-Klöstern und ihren noch verbliebenen mönchischen Platzhaltern, geht mit ihm zurück in den zweiten Weltkrieg nach Kreta, wo Fermor mit griechischen Partisanen erfolgreich deutsche Besatzer bekämpfte.
Ein besonderes Kapitel erzählt die Geschichte von den Schuhen Lord Byrons. Der Liebhaber Griechenlands und Kämpfer für dessen Freiheit war 1824 in dem Westküstenort Messolonghi verstorben. Seine Urenkelin hatte von dort einen Brief (in Griechisch) erhalten, in dem es hieß, ein Bewohner Messolonghis besitze ein Paar Schuhe Byrons, die er einem Nachfahren des Lords übergeben möchte. Da die Urenkelin kein Griechisch konnte, schaltete sie Fermor ein, der nur zu gerne half. Nun beginnt eine langwierige Suche, bis der Betreffende ausgemacht ist und seinen Schatz auf dem Tisch seines Wohnzimmers platziert. Ein Leinenbündel, das der Gastgeber nach langen Vorreden schließlich öffnete. Als er
„die innerste Lage des Seidenpapiers beiseite schlug und mir die Schuhe behutsam reichte, hielt ich ein Paar leicht, schmale, verblasste Pantoffeln in Händen, die Sohlen aus Saffranleder, die Oberseite mit zarter gelber Seidenstickerei und die Spitzen nach orientalischer Mode aufgebogen. … Schweigend ließen wir die zwei zarten Trophäen von Hand zu Hand wandern. Etwas an ihnen überzeugte uns sofort. Als wir sie umdrehten und die dünnen Sohlen begutachteten, wuchs die Gewissheit: die Sohlen waren unterschiedlich abgenutzt. … Wir wiesen den Besitzer darauf hin, doch da er noch nie gehört hatte, daß Byron zwei ungleiche Füße hatte, weckte unsere Bemerkung allenfalls höfliches Interesse.“
Doch dann will der Gastgeber die Schuhe doch nicht aus der Hand geben. Seine Nichte stehe kurz vor der Hochzeit
„und ich will sie ihr als Mitgift geben. Die beiden können sie an ihre Kinder vererben, und diese an die ihren und immer so weiter…. Wir versicherten ihm, daß ihm niemand einen Vorwurf machen werde, schon gar nicht Byrons Urenkelin.“
Da muß man schon sehr viel von griechischer Mentalität verstehen … Und die schimmert bei allen Geschichten Fermors durch. Er erzählt zwar vordergründig von seinen Reisererlebnissen, aber eigentlich geht es ihm um die griechische Mentalität, um die Seele der Griechen. So unterscheidet er zwischen zwei Typen: Dem „Rhomäer“ und dem „Hellenen“. Während letzterer nach der Entstehung Griechenlands im 19. Jahrhundert die Zeit des Perikles zum Ideal hat, sehnt sich ersterer nach der Rückkehr des byzantinischen Reiches. Hier Hagia Sofia, dort Parthenon.
Fermor stellt eine Liste von 64 Charakterzügen zusammen, sozusagen Eigenschaftspaare, die auf den jeweiligen Typ zutreffen. Interessant und sehr gegenwartsbezogen ist dabei die rhomäische Einstellung „versteht Griechenland nicht als Teil von Europa“ gegenüber der hellenischen Haltung „versteht Griechenland als Teil von Europa“. Andererseits werden von beiden „die Probleme der Welt … bei endlosen Tassen türkischen Kaffees im Kafenion gelöst“.
Fermor schafft eine Symbiose zwischen beiden Typen, indem er erklärt, daß in jedem Griechen beides vorhanden sei, die berühmten zwei Seelen in einer Brust. Es bestimme dann der Grad der Ausprägung und die Tagesform, wohin die Person aktuell tendiere und wie sie entscheide. Er singt ein langes Loblied auf die positiven Eigenschaften der Griechen, aus dem für die heutige, aktuelle Situation durchaus tröstende Strophen herüber klingen.
„Auch wenn es Phasen rhomäischer Trägheit, verschleppter Aufgaben gibt, spüren sie doch den Drang, die Gelegenheit bei den Hörnern zu packen, die günstigen Strömungen und selbst die aussichtslosesten Umstände noch zum Guten zu wenden … Griechen sind berühmt für ihr Geschick in allem, was mit Geld zu tun hat. Die Kunst, aus dem Nichts Gold zu machen, wird, … , nie durch die komplementäre Schwäche getrübt: Geiz gilt als verachtenswert …“
Eine Einschätzung, die vor gut einem halben Jahrhundert getroffen wurde. Doch wie für den heutigen Tag formuliert klingen die Worte eines Eisenbahnschaffners, der nichts von den alten Griechen hält, obwohl er alles über sie in der Schule lernen mußte.
„Aber wen kümmert das? Griechenland ist eine Idee, darum geht es! Das ist es, was uns zusammenhält – das und die Sprache und das Land und die Kirche. … Und diese alten Griechen, diese hochgerühmten Vorfahren, die gehen mir auf die Nerven. … Sie plagen uns wie Gespenster. Wir werden niemals wieder so großartig wie sie, niemand wird das. Und dafür fühlen wir uns schuldig. … Wenn es mal fünfzig Jahre lang keinen Krieg und keine Revolution gäbe – … – da würden Sie staunen, was für ein Land aus uns würde!“
Die letzte Revolution in Griechenland fand – wenn man so will – 1967 mit dem Beginn der Militärdiktatur statt …
Abgesehen von diesen recht aktuellen Bezügen schafft es Patrick Leigh Fermor, nicht nur Liebhaber des Mittelmeerlandes anzusprechen. Zwar sind seine Geschichten keine leichte Kost, manchmal erwecken sie das Gefühl der Überfrachtung, wenn er detailverliebt aus dem Beschreiben und Aufzählen nicht mehr herauskommt. Doch es dürfte kaum jemand geben, der mit solch einer wohltuenden Symbiose aus emotionalem Engagement und fundiertem Wissen über Griechenland und seine Menschen geschrieben hat.
Patrick Leigh Fermor
Rumeli, Reisen im Norden Griechenlands
Deutsch von Manfred und Gabriele Alle‘
2012 Dörlemann Verlag, Zürich
ISBN 978-3908777724