Jacques Rivette VORSICHT: ZERBRECHLICH! Die Unschuld des Kinos zurückerobern

Götz Kohlmann über Jacques Rivettes Film VORSICHT: ZERBRECHLICH!

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HAUT BAS: FRAGILE! © Pierre Grise Productions

I Das Leben einfangen

„Kurz, das Leben, das hätte ich gern einfangen wollen“, so sprach Jean-Luc Godard im Oktober 1965 in den „Cahiers du Cinema“ über seinen Film „Pierrot le Fou“, „aber das Leben wehrt sich heftiger als (ein) Fisch, es gleitet uns durch die Finger …“. – Dass es hin und wieder dennoch möglich ist, den Fisch Leben einzufangen, dass dieses Wunder im Kino immer wieder einmal geschieht, hat Godard selbst oft bewiesen. Ein anderer, der dem Anfangsversprechen der „Nouvelle Vague“ die Treue gehalten hat, ist Jacques Rivette – in „Vorsicht: Zerbrechlich!“ aus dem Jahr 1994 scheint es, als werde eine Verheißung eingelöst.

Gleich Seifenblasen, die durch sommerliche Straßen fliegen, strömt, tanzt dieser knapp dreistündige Film an seinem Betrachter vorbei. Er ist von einer solchen Harmonie, dass man in der Betrachtung immer ruhiger und ruhiger wird. Es gibt nur wenige Filme, die uns zu verwandeln vermögen wie eine gelebte Erfahrung, es gibt nur wenige, die uns die Welt danach mit ihren klareren Augen sehen lassen, denn meist kommen wir doch mit unserem eigenen trüben Blick wieder aus dem Kino heraus. Nach „Vorsicht: Zerbrechlich!“ scheint es in der Innen- und Außenwelt heller und freier geworden zu sein.

Drei junge Frauen bewegen sich durch die Stadt Paris, dazu die Geräusche raschelnden Laubs, fallenden Regens, der Vögel, der fahrenden Autos, der spielenden Kinder – mehr braucht Rivette nicht, und schon ist man nur noch Auge und Ohr. Es ist ein eigentümlich leeres, stilles Paris, das Rivette zeigt, er zeigt nicht die Weltstadt, den Regierungssitz, die bekannten Wahrzeichen, es gibt keinen großstädtischen Lärm, keine Verkehrsdichte, keine Enge, kein Passantengedränge, keinen Schmutz, keinen hektischen Geschäftsbetrieb – und dennoch zweifelt man keinen Augenblick daran, dass auch dieses Paris Wirklichkeit ist.

Da ist Ninon (Nathalie Richard), die Streunerin. Sie lässt sich durchs Leben treiben, das sie mit wechselnden Jobs und Gaunereien finanziert. Als sie Zeuge eines tödlichen Streits wird, scheint sie von der „Unterwelt“ genug zu haben. Sie findet Arbeit bei einer Botenagentur, trägt mit dem Mofa oder auf Rollerskates Pakete und Blumensträuße aus, stiehlt aber bei der ersten Gelegenheit das Geld aus der Kasse, worauf die Sekretärin der Agentur, die die Schublade offen stehen ließ, entlassen wird.

Dann ist da Louise (Marianne Denicourt), die Tochter aus reichem Hause. Sie lag nach einem Unfall fünf Jahre lang im Koma und wagt nun die ersten Schritte in ein neues Leben, pendelt zwischen einem Hotelzimmer und einer alten, unbewohnten Villa, die sie von einer Tante geerbt hat. Ihr Vater ist ein Genfer Bankier. Man hört immer wieder nur seine in unheimlich-dubioser Weise fürsorgliche Stimme am Telefon, auf die Louise distanziert reagiert. Man spürt, sie will sich nicht bevormunden lassen und ihr eigenes Leben leben, zu Recht, wie sich zeigen wird, denn ihr Vater hat ein dunkles Geheimnis.

Und schließlich Ida (Laurence Côte), das Adoptivkind. Sie ist gerade aus der Provinz nach Paris gekommen, arbeitet als Bibliothekarin und kennt niemanden als ihren Kater und die Verkäuferin an der Hot-Dog-Bude eines kleinen Parks. Ida will ihre wahre Herkunft ergründen. Als sie zufällig eine Melodie aufschnappt, bildet sie sich ein, das Lied als Kind oder gar schon im Mutterleib gehört zu haben. Es wird ihr zur fixen Idee, dass dieses Lied sie zu ihren Eltern führen kann. Lieder gehören zur Struktur des Films: die wunderbare Sängerin Enzo Enzo tritt mehrfach mit ihrer Band auf; auch Anna Karina, Darstellerin in so vielen Nouvelle-Vague-Klassikern der 60er Jahre, singt zwei Chansons.

II Urbane Pastorale

Rivettes Heldinnen haben allerlei Sorgen und strahlen doch Sorglosigkeit aus. Was nicht zuletzt an ihren anmutigen, tänzerischen Bewegungen liegt, die manchmal beiläufig, und mit der Selbstverständlichkeit, die man aus den alten Hollywood-Musicals kennt, in tatsächliche Tanz- und Gesangsszenen übergehen – natürlich nicht ohne männliche Partner. Roland (André Marcon), ein Bühnenbildner, weiß um das Geheimnis in der Vergangenheit von Louises Vater. Er will verhindern, dass sie davon erfährt. Doch er ist nicht ihr einziger Beschützer. Da ist noch der ungeschickte, schüchterne Lucien (Bruno Todeschini), der vom Vater als anonymer Wachmann für Louise engagiert wurde. Und auch der zwielichtige Besitzer des Tanzklubs „Back Stage“, mit dem Roland bekannt ist, scheint ein Interesse an Louise zu haben.

Flüchtig variiert Rivette hier ein Goethe-Motiv: ein Einzelner wird, ohne es zu ahnen, von einer ihm wohlwollenden Gruppe begleitet und gelenkt. Überhaupt weht der Geist des 17. und 18. Jahrhunderts durch den Film, der Geist der Komödien, des Theaters jener Epoche, der Geist der Fete champetre. Diese ländlichen Szenen unter freiem Himmel waren ein bevorzugtes Sujet der französischen Maler der vorrevolutionären Epoche (einmal fällt im Gespräch zwischen Roland und Louise der Name Robespierre, und es klingt nach einer unterschwelligen Warnung, so als könne dieser heitere Sommer ein schreckliches Ende nehmen). Immer wieder begegnen wir den Hauptfiguren in Parkanlagen, auch beschwören Möbel und Wandgemälde in den alten Villen, die Schauplätze sind, das 18. Jahrhundert. In jener Zeit spielt auch das Theaterstück, für das Rolands Firma Bühnenbilder entwirft.

Rivette gelingt quasi das Paradox einer urbanen Pastorale. Er orientiert sich am spielerischen, traumartigen Charakter der traditionellen Idylle, verweist aber immer auch auf die Gefährdung der Idylle: alles ist „Vorsicht: Zerbrechlich!“ eben. Die Gefährdungen, Irrungen der Figuren verhindern, dass Rivettes Großstadt-Arkadien platt, geschönt, allzu verklärt wirkt.

Berühmt sein Diktum über Howard Hawks: dessen Einstellungen hätten die funktionale Schönheit eines Knöchels. Auf den ersten Blick scheint Rivette weniger nüchtern zu denken, doch der zweite Blick offenbart, dass auch er eine gelungene Filmarchitektur anstrebt, die sowohl schön ist, als auch einen inhaltlichen Zweck erfüllt. Hawks, auch Hitchcock, werden in „Vorsicht: Zerbrechlich!“ mehrfach mit leichter Hand zitiert. Der Film streut einen Strauß dezenter Verweise auf Kunst, Geschichte und Mythologie aus. Diese Anspielungen sind auf unprätentiöse, elegante Weise in das Geschehen verwoben.

Keine Sekunde heischt Rivette nach irgendeiner Bedeutung. Es scheint so, als sei ihm die Geschichte nebensächlich, als ginge es ihm nur um Details, als wolle er nur zeigen, wie der Wind Idas Kleid und Haar bewegt, während sie einen Hot-Dog isst, wie Louise sich zwischen den schönen Antiquitäten der alten Villa bewegt, wie Ninon auf Rollschuhen durch das weiße Licht der leeren Pariser Straßen saust. Sieht man den Film ein weiteres Mal, dann bemerkt man erst, wie sorgfältig die Geschichte gearbeitet ist, und welches Gewicht sie dem Film gibt, ein Gewicht, ohne dass er mit all seinen feinen, hingetuschten Beobachtungen wie ein Ballon in den Sommerhimmel entschwinden würde.

III Unendliche Gegenwart

„Vorsicht: Zerbrechlich!“ ist ein Film, in dem sich die Gegenwart unendlich auszudehnen scheint. Er ist verliebt in Gesten, Räume, Bewegungen, Töne, Gesichter, Kleider. Mühelos führt er die Genres Komödie, Melodram, Musical und Krimi zusammen, doch deren Konventionen werden nur flüchtig berührt, sie bilden keine dramaturgische Linie aus, die das Gefühl entstehen lassen könnte, tatsächlich einen Krimi oder ein Musical zu sehen.

In einer seiner ersten theoretischen Äußerungen zum Kino schrieb Rivette 1950, also lange vor Beginn seiner Karriere als Regisseur, vom Einfangen eines unwiederbringlichen Augenblicks. Darum geht es ihm. Und er schreibt von einer Filmsprache ohne Gesetz, immer improvisiert, neu geschaffen, immer abenteuerliche Unternehmung. Das ist auch noch der Geist von „Vorsicht Zerbrechlich“, doch er ist geformt und gebändigt von den Gesetzen, wird vermittelt in der schwerelosen Sprache, die ein Künstler nach vielen Jahren für sich gefunden hat, der nun selbst über die zwanglose Meisterschaft eines Klassikers verfügt und anstrengungslos, anmutig zu erzählen vermag.

„Wir sind nicht mehr unschuldig“, hieß der frühe Aufsatz. Rivette wendet sich darin gegen ein Kino der Rhetorik, gegen formale Konventionen und vielseitig verwendbare Formeln. Er wendet sich gegen eine falsche Virtuosität des Schnitts, gegen eine die Präsenz zersetzende Montage. Rivette will beständig den Raum und die Dauer vermitteln, es geht ihm um die Integrität der einzelnen Szenen. Bei ihm agieren die Menschen vor der Kamera wie auf einer Bühne. Eine Gesprächssituation wird kaum einmal in Schnitt und Gegenschnitt aufgelöst.

Rivettes eigenes Schaffen strebte denn auch nach dem Ziel, die Unschuld des Kinos zurückzuerobern, das Kino als „eine beständige und ruhige und sichere Erschaffung der Welt“. Die durch die Reflexion verlorene Grazie soll sich wieder einstellen. „Das ist der Baum der Erkenntnis“, sagt Roland einmal zu Louise, als er ihr in seinem Atelier Theaterdekorationen zeigt, die Schlange fehle ihm noch. Es ist gewiss auch ein romantisches Werk, ein Werk jenseits der Zahlen und Kalkulationen, denkbar weit entfernt von den technischen Gewittern der Hollywood-Blockbuster. In Rivettes Filmen rüstet das Kino ab, um zu den Anfängen des Zeigens und Schauens zurückzukehren.


„Vorsicht: Zerbrechlich!“ („Haut bas fragile!“)
Frankreich, 1994, 163 Minuten, Regie: Jacques Rivette


Weder eine DVD noch ein Video des Films ist meines Wissens im Handel erhältlich; hin und wieder wird er in einem der dritten Fernsehprogramme, bei arte oder in einem Programmkino gezeigt.

Götz Kohlmann