Hendrik verläuft sich genüßlich in GORMENGHAST (und findet vom Buch zur Verfilmungskritik)
Es gibt Bücher, die zeigen uns eine Welt in drei Dimensionen. Die Rede ist nicht von Pop-Up-Books und schon gar nicht von den diversen „Das Magische Auge“-Bildbänden, an denen sich jahrelang Effekteinteressierte die Iris verrenkt haben, sondern von jenen seltenen Werken der Weltliteratur, denen es gelingt, bestimmte Orte so lebhaft in unserer Vorstellung zum Leben zu erwecken, daß wir in das Buch hineinzugehen und dort umherzuwandern scheinen. Zuweilen ist es sogar so, daß Figuren und Handlung davor völlig verblassen, und damit wird der Ort zur eigentlichen Hauptfigur des Werkes: ein unauffälliges Pariser Mietshaus (wie in George Perecs „Das Leben. Gebrauchsanweisung“) oder vielleicht gleich eine ganze Metropole an einem Tag des Jahres 1904 (wie in Joyces „Ulysses“). Das Romanwerk des britischen Schriftstellers und Malers Mervyn Peake um die gigantische Schloßstadt Gormenghast zählt zweifelsohne zu den würdigsten Vertretern dieser besonderen Spielart der Literatur – und instrumentalisiert die dramatische Wucht seines Schauplatzes meisterlich.
Der Ort ersteht schon beim ersten Betreten in der Vorstellung, als habe man ihn selbst gesehen und durchwandert:
Gormenghast – oder genauer: der größte Teil des alten Mauerwerks – hätte, für sich gesehen, eine bestimmte, eindrucksvolle Bauweise repräsentiert, wäre es nur möglich gewesen, jene umliegenden schäbigen Behausungen zu ignorieren, die sich wie eine krankhafte Wucherung um die Außenmauern legten. Sie breiteten sich über den Hang aus, eine jede halb über dem Nachbargebäude aufragend, bis die oberen Hütten, aufgehalten durch die Befestigungen der Burg, wie Napfschnecken am Felsen klebten. […] Zu allen Jahreszeiten fielen über die unregelmäßigen Dächer die Schatten der von der Zeit angenagten Zinnen, der zerfallenen und der hochaufragenden Türmchen und, am gewaltigsten, der Schatten des Pulverturms. Dieser Turm, ungleichmäßig mit Efeu bewachsen, erhob sich wie ein verstümmelter Finger aus einer Faust von knöchelartigem Mauerwerk und wies blasphemisch gen Himmel. Des Nachts verwandelten ihn die Eulen in einen hallenden Schlund; tagsüber ragte er stumm auf und warf seinen langen Schatten.
In der in dieses verwinkelte steinerne Universum geworfenen Geschichte scheinen sich zuweilen selbst ihre Hauptfiguren zu verirren – gerade ihre Hauptfiguren, wie z.B. der lethargische, völlig in seine hochaufgetürmten Bücherwelten versunkene 66. Earl of Groan, zu Beginn der Geschichte der Herrscher über Gormenghast und damit das Zentrum der Fülle von sinnentleerten Regeln und uralten Ritualen, die als unsichtbares Verlies das Leben der Menschen umschließen und sie ihre täglichen Wege entlangzwingen wie Puppen, die von einem verstaubten und verrosteten Uhrwerk angetrieben werden.
Den anderen Figuren – Lord Groans Frau, seine beiden einfältigen Schwestern sowie der aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht für die Adelsrituale uninteressanten und stets halbvergessenen Tochter – ergeht es nicht anders, und wie das in solchen Welten so ist, spiegelt die Kosmologie der Dienerschaft diese Strukturen wieder: der vogelscheuchenhafte persönliche Diener des Lords namens Flay, der dauerzornige zwergenhafte Ritualmeister Barkentine, der Leibarzt Prunesquallor mit seiner exzentrischen Schwester, das greise Kindermädchen, das völlig vertrottelte Lehrerkollegium und so fort: sie alle wirken zu Beginn des Romans wie kleine unwichtige Statisten, bloße Blutkörperchen im gigantischen Organismus von Gormenghast: es ist ihr Universum, und eine Existenz außerhalb dieses Kosmos aus uralten Bauten, vergessenen Kellern voller seltsamer Gegenstände und staubigen Türmen erscheint nicht denkbar.
Fast hat man das Gefühl, schon die Beschreibung des normalen Alltags auf Gormenghast könne einen höchst vergnüglichen skurrilen Roman füllen. Aber Mervyn Peake läßt den Roman in einer Zeit des Undenkbaren spielen: einer Zeit des Umbruchs und der Veränderung in Gormenghast, der Verkörperung ritueller Erstarrung. Einer ihrer Auslöser (und damit die Hauptfigur des Romans, soweit es die klassische dramatische Handlungsebene betrifft) ist der Küchenjunge Steerpike, der nach einer lebensgefährlichen Flucht aus den Kellern des sadistischen Küchenmeisters Swelter bis hinauf zu den sich wie ein Meer ausbreitenden Dächern der Schloßstadt seinen skrupellosen Aufstieg in der Hierarchie der Bewohner beginnt und damit den Einsturz dieses Gefüges ins Werk setzt.
Problem: Wie verfilmt man sowas?
Lösung: Man läßt das jemanden machen, der sowas kann.
Die BBC setzt sich ja schon seit langem für ihre literaturbasierten Fernseh-Mehrteiler recht hohe Qualitätsstandards, und ganz offensichtlich beherrscht man dort die Kunst, aus einem (verglichen mit Kinoproduktionen) schmalen Budget das Bestmögliche herauszuholen. Nun kann man einen gigantischen Ort verfilmen, indem man ihn entweder computergeneriert oder verkleinert nachbaut und die Figuren hineinkopiert. Da gibt es ständig technische Fortschritte, diese sind aber eben meist erst einmal nur dem Kinoproduzenten mit seinem etwas größeren Geldbeutel zugänglich.
Also besann sich die BBC auf anderweitige Produktionskompetenzen und das von Theaterbühnen übernommene pars pro toto-Prinzip: ein Teil steht für das Ganze. Die Phantasie des Betrachters erhält die richtigen optischen Fundamente und ergänzt den Rest selbst. Das ist allerdings schwierig hinzubekommen, denn wenn es nicht sehr gut gemacht ist, bleibt eine Ansammlung von ein paar halbdunklen Kammern und Fluren eine Ansammlung von ein paar halbdunklen Kammern und Fluren, und es wird keine Burg in der Phantasie des Betrachters daraus, geschweige denn der atmosphärische Schauplatz einer Geschichte. Wer wissen will, was ich meine, schaue sich Beowulf mit Christopher Lambert an; der Film hätte, würde man ihn in den Umkleidekabinen bei H&M abgedreht haben, auch nicht mehr schlechter werden können.
Die gigantische und weitläufige Stadt Gormenghast wird in der BBC-Verfilmung meist nur in Andeutungen gezeigt: riesenhaften Fundamenten und Gebäudedetails wie etwa eine hausgroße Uhr oder ein quer aus einem Turm herausragender Baum (Hundertwasser hätt’s gefallen), der so groß ist, daß man seinen five o’clock tea darauf nehmen kann, oder das Haus des Arztes, das mit seiner normalen Größe die schiere Riesenhaftigkeit der umragenden Architektur umso mehr betont. Wie Mäuse in einem Menschentheater bekommen die Zuschauer die gravitätische Wucht des Schauplatzes mit wenigen Ausnahmen von unten und in Ausschnitten zu sehen, und die inspirierte und originelle Anreicherung mit architektonischen Teilrequisiten übersetzt den an sich unverfilmbaren Schauplatz sehr gelungen in eine Dimension, in der eine wendungsreiche dramatische Handlung stattfinden kann.
Der zweite Packen Trümpfe, den die BBC ferner hervorholt, ist ein Schauspieleraufgebot, das sich in einer TV-Produktion wahrhaft sehen lassen kann: Jonathan Rhys-Meyers, John Rhys-Davies (der Gimli aus „Lord of the Rings“), Christopher Lee (den spätestens seit seiner Verkörperung Sarumans auch die Jüngeren wieder kennen), Fiona Shaw, Stephen Fry u.v.a.; und sie alle brachten die Bereitschaft mit, sich tief auf die – z.T. recht unschöne – Skurrilität der Figuren einzulassen, die von burlesker Komik (Stephen Fry als trottelhafter Schullehrer) bis zu finsterster shakespearescher Bosheit (der schöne Jonathan Rhys-Meyers als zunehmend böser und skrupelloser Schurke) reicht.
Und so werden in insgesamt vier jeweils einstündigen Episoden die ersten beiden Romane der Gormenghast-Reihe in wirklich ausnahmslos runder (und natürlich die ca. 800 Seiten etwas vereinfachender) Weise umgesetzt. Es ist schön, daß der Vierteiler nie synchronisiert wurde, denn die verschiedenen Sprechstile der Figuren (insbesondere Christopher Lees tiefes Organ) hätten bei jeder Übertragung nur verlieren können: es lohnt sich auch für Sprecher eines etwas eingeschlafenen Englisch, es mit dem Original zu versuchen, selbst wenn man zu Anfang womöglich nicht jedes Wort versteht. Die Konflikte und Charaktere der Figuren sind auch so sehr deutlich.
Aber warum eigentlich nur die ersten beiden der drei Romane? Das ist in diesem Fall durchaus eine gute und nachvollziehbare Entscheidung, die in der Natur der Gormenghast-Reihe begründet liegt. Der dritte Teil der Reihe spielt nämlich gar nicht mehr in Gormenghast, was ihm eine völlig andere Stimmung verleiht. Peake hat das ursprünglich auf noch mehr Bände angelegte Mammutwerk aus gesundheitlichen Gründen nie weiterführen können, und der dritte Roman spiegelt dies bereits ein wenig wieder.
Das soll uns aber nicht hindern, die beiden uns das steinerne Universum von Gormenghast erschließenden Werke als die Geniestreiche zu genießen, die sie nun einmal sind. Auf den Listen der Orte-die-ich-gerne-besuchen-würde-wenn-es-sie-denn-gäbe steht der Buchort Gormenghast gemeinsam mit Mittelerde und der Erdsee wohl nicht nur bei mir ganz weit oben.
Ich kann Peake lesen, dann die Augen schließen und mich in Gormenghast wiederfinden. Normalerweise kann ein solcherart genossenes Buchwerk im Film nur enttäuschen, denn die Phantasie ist und bleibt der beste Regisseur. Und so freut es mich doppelt, hier ausnahmsweise mal eine Filmvariation vorzufinden, die mir meine eigenen Vorstellungen läßt und zugleich die Geschichte kurzweilig, ambitioniert und wirklich kompetent visualisiert. Man kann es alles sehen, sogar wenn man hinschaut.