Götz Kohlmann über das „nackte“ Erzählen des Mainzer Stadtschreibers Peter Stamm.
Wer versuchte nicht schon einmal ein Erlebnis festzuhalten, davon zu erzählen, und machte die Erfahrung, wie schal und unwesentlich bei der Niederschrift alles wurde? Wie sich der innere Gehalt im Schreiben banalisierte und seine Großartigkeit und Bedeutung zu verlieren schien? Die Bewegung ist groß, die Fakten hat man parat, die Atmosphäre zwar nur vage, aber es müsste doch ein Leichtes sein, das, was uns so berührt und zum Kern unserer Identität zu führen verspricht, in Worte zu bannen.
Doch sobald wir zu schreiben beginnen, spüren wir, dass die uns zur Verfügung stehende Sprache nicht an das Erlebte, Empfundene heranreicht. Großen Schriftstellern gelingt es, unsere Erlebnisse und Erfahrungen zu schildern, indem sie zwar etwas ganz anderes erzählen, wir aber das Gefühl haben, unser eigenes Leben werde da zum Ausdruck gebracht. Wir identifizieren uns mit dem, was den literarischen Gestalten widerfährt, mit ihren Gefühlen, Wahrnehmungen, Gedanken. Ohne diese Möglichkeit der Identifikation gäbe es keine Literatur. Die Schriftsteller sind also unsere Stellvertreter. Sie vermögen in Worte zu fassen, was wir empfinden und leiden, aber oft nicht auszudrücken vermögen.
Großen Schriftstellern gelingt aber noch mehr als die lebensnahe Schilderung. Sie bringen wie Tolstoi in der Wirklichkeit etwas zum Vorschein, was wir ohne sie in unserem Leben gar nicht wahrnehmen oder immer nur wie durch ein trübes Glas oder einen Nebel sehen können. In den Vorlesungen Vladimir Nabokovs über russische Literatur gibt es eine Stelle, die den Gleichklang, die Intimität von Leser und Buch wunderbar formuliert. Es geht um Tolstois „Anna Karenina“. Nabokov sagt:
„Tolstois Prosa hält Schritt mit unserem Puls, seine Gestalten scheinen sich im selben Rhythmus zu bewegen wie die Menschen, die am Fenster vorübergehen, an dem wir beim Lesen seines Buches sitzen.“
Tolstoi habe die „alltägliche Jedermannszeit, eine Art Normalzeit … irgendwie in seine Werke gebracht.“ Diese „alltägliche Jedermannszeit“ wandelt sich aber im Lauf der Epochen. Unser heutiges Zeitgefühl ist ein völlig anderes als dasjenige Nabokovs und erst recht von Tolstois Zeitgenossen, ganz abgesehen davon, dass ja noch jeder einzelne Mensch sein nur ihm eigenes Zeitempfinden hat. Nabokovs Feststellung ist brillant, doch erst wenn man ihre Aussage umkehrt, wird ihr ganzer Wahrheitsgehalt offenbar. Nicht Tolstois Prosa hält also Schritt mit unserem Puls, sondern unser Puls pendelt sich auf Tolstois Prosa ein, nicht seine Gestalten bewegen sich im Rhythmus der Menschen vor dem Fenster, sondern die Menschen vor dem Fenster bewegen sich im Rhythmus von Tolstois Gestalten.
Die Prosa der großen Autoren verwandelt, während wir sie lesen, unsere eigene Weltwahrnehmung. Was sie tatsächlich „irgendwie“ in ihre Werke bringen und was uns so tief berührt, ist nämlich weniger die Zeit als die Erlösung von der Zeit, die Zeitlosigkeit. Tolstoi, der Autor, der historische Ereignisse und ihre Wirkungen auf den Menschen zu schildern vermochte wie kein Zweiter, befreite das Leben seiner Figuren zugleich von der Verfallenheit an die historische Zeit. Es gibt jedoch auch Autoren, es sind keine Giganten wie Tolstoi, doch Rangfolgen sind ohnehin fragwürdig in der Kunst, deren Arbeit Nabokovs Bemerkung über Tolstois Prosa genau entspricht. Sie nämlich schreiben im Rhythmus der Menschen, die am Fenster vorübergehen.
Die richtigen Umrisslinien
Peter Stamm, dessen Werk hier ein wenig betrachtet werden soll, ist ein solcher Autor, ein Meister darin, Unspektakuläres unspektakulär zu erzählen und dennoch Literatur zu schaffen. Seine Erzähler finden Worte, doch ihren Schilderungen ist die Diskrepanz zwischen dem Reichtum der Wirklichkeit und dem Mangel der Sprache immanent. Ja, Stamm macht ihn sich sogar zunutze, diesen Mangel, um seinen unverwechselbaren Ton, das spezifische Gewicht seiner Texte zu erzeugen. Denn er riskiert bewusst das Einfache, sogar Banale. Stamms Protagonisten sind meist gut ausgebildet, Akademiker, durchaus beruflich erfolgreich, manche von Haus aus ein wenig wohlhabend, sie haben Stil und über den Kamm geschert könnte man sie einem städtischen, noch halb studentischen und schon auch halb bürgerlichen Milieu zuordnen. In diesem Milieu und im Innenleben seiner Bewohner kennt sich Stamm sehr gut aus. Da es eine große Übereinstimmung zwischen der Erfahrungswelt seiner Leser und der der Figuren gibt, kann Stamm sich Leerräume, Umrisse erlauben, die er der Imagination des Lesers überlässt. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, die richtigen Umrisslinien zu zeichnen, damit die Vorstellungskraft angeregt wird. Stamm gelingt das. Aus der Differenz zwischen der Größe der Emotionen und der kühlen Distanz der Sprache entsteht die Spannkraft seiner Texte. Er schreibe ganz einfache Sätze, hat er oft gesagt. Fast scheint es, als könne er sich selbst nicht erklären, wie daraus jene von Publikum und Kritikern geschätzte Literatur entstehen kann. Wichtig sei ihm die Atmosphäre und diese ist oftmals eher dunkel und verhängnisvoll als hell und frei.
Eine entgötterte Welt
Die Dunkelheit von Obsessionen prägt die Stimmung der Romane, die latente Unzufriedenheit, das immerfort Suchende im Wesen der Protagonisten: wie Alexander in „Sieben Jahre“ Iwona auf ihm selbst unerklärliche Weise sexuell verfallen ist, wie Andreas in „An einem Tag wie diesem“ unbedingt seine Jugendliebe wieder sehen und erstmals mit ihr schlafen will, um sich damit von etwas zu befreien. Die Romane spiegeln sich untereinander, variieren Motive der vorhergegangenen: ist Alexander fasziniert von Iwonas mangelnder Attraktivität, so Andreas von Fabiennes makelloser Schönheit. Und während Alexander dann die makellos schöne Sonja heiratet, scheint für Andreas Delphine, die zwar ein hübsches, aber bleiches Gesicht und unreine Haut hat, die rechte Partnerin zu sein.
Stamms Schreiben wandelt auf einem Grat, das Alltäglichste kann bei ihm unterlegt sein mit einem Ton des Unbehagens, der Freudlosigkeit, der Kälte. Seine Erzähler bewegen sich in Grenzen, scheinbar ohne Erkenntnisdrang, ohne Sehnsucht nach einer Wahrheit jenseits des Gegebenen. Doch wohlgemerkt sind es die Grenzen der Erzähler, nicht Stamms Grenzen. Wir begegnen einer lakonischen Wahrnehmung der Welt, kaum einmal Euphorie, Traum oder poetischer Verklärung. Das allzu Schöne lässt die Figuren skeptisch werden, so als sei die Schönheit eine immer gefährdete Illusion oder grundsätzlich mit Misstrauen zu behandeln. Es ist eine entgötterte Welt, in der sich Stamms Figuren bewegen. Sie konstatieren es, versuchen sich darin zurecht zu finden und hoffen dennoch immer insgeheim auf so etwas wie Gnade.
Beim Lesen von Stamms Romanen dachte ich an die Filme Michelangelo Antonionis und auch Robert Bressons. Seine formale Strenge, sein trotz des kargen Stils anschauliches Erzählen, steht der Ästhetik dieser beiden großen Regisseure sehr nahe. Susan Sontag schrieb einmal über Bressons künstlerisches Vorgehen:
„Dem Zug zum gefühlsmäßigen Engagement wirken Elemente im Werk entgegen, die auf Distanz, Desinteresse, Unparteilichkeit abzielen.“
Es ist die Erzählhaltung Stamms, die hier beschrieben wird. Und zugleich wird damit auch die innere Verfassung der jungen bis nicht mehr ganz so jungen männlichen Hauptfiguren charakterisiert, denen wir bei Stamm begegnen. Ihren starken Gefühlen für die Frauen wie Agnes oder Delphine steht ihr kühles intellektuelles Temperament gegenüber, das solche Gefühle scheut, allzu viel Nähe nicht zulassen will. Nicht nur formal, auch bei seiner Analyse des modernen Lebens bewegt sich Stamm in den Spuren Antonionis: es geht um Menschen mit unklaren, unbeständigen Gefühlen, die Unbestimmtheit der Existenz, die Leere einer heterogenen Realität, die nicht mehr bewältigt werden kann. Zudem folgt Stamms Erzählweise oft den Gesetzen der filmischen Montage.
Recht mühelos ließen sich seine Werke in Drehbücher transkribieren. Der unausgesprochene Hintergrund, vor dem die Geschichten spielen, ist die utopiefreie Gegenwart Europas, in der große Ideale und Weltentwürfe unter Verdacht stehen und schon im Aufkommen unterdrückt werden. Und diesem entleerten Himmel gesellt sich die Idee eines perfekten, optimierten Lebens im Hier und Jetzt bei, das alle Möglichkeiten nutzt. Daher versuchen die Protagonisten Versäumnisse nachzuholen, daher verpassen sie wie der namenlose Held in „Agnes“ den wahren Moment und scheuen die Entscheidung für einen bestimmten Lebensweg.
Es ist, als dürfe es in dieser Welt keine geglückte Liebe mehr geben. Die Indifferenz ist bei vielen von Stamms Figuren die hervorstechende Eigenschaft. Seine Charaktere sind nicht einmal desillusioniert, sie haben sich noch nie eine Illusion gestattet. Nur manchmal taucht noch ein unerfüllter Traum als fernes Echo der Jugend auf, wie in „An einem Tag wie diesem“, der vom Romanausgang her gesehen positiven Variante zu „Agnes“. Zwischen Mann und Frau besteht eine Fremdheit, die nur der Sex als letzte eindeutige Handlung zu überbrücken vermag. Stamms Helden sind heimatlos, leben wie in einem selbst gewählten Exil. Die Erfahrung der Entfremdung, die Frage der Identität, es sind klassische Themen des 20. Jahrhunderts, die in seinem Werk noch einmal neu behandelt werden.
Nacktes Erzählen
Es ist ein realistisches, „nacktes“ (so Stamm selbst über seinen Stil) Erzählen, man könnte sagen, das, was am Ende einer experimentellen Moderne und verspielten Postmoderne, die so viele hybride Werke hervorbrachten, übrig blieb. Stamms Stil knüpft an Hemingway (von dem er die „Eisberg-Methode“ übernimmt) und Camus an, nicht an das üppig instrumentierte amerikanische Erzählen a la Updike oder Roth, obwohl er sich diesen mit seinen letzten Werken durchaus annähert und inzwischen ja auch in England und den USA als Autor stark wahrgenommen wird; er orientiert sich nicht an den Experimenten der europäischen Moderne, die mit Joyce, Proust und Beckett zu den äußersten Grenzen des Literaturkosmos vorstieß, doch auch nicht am poetisch-realistischen Erzählen des 19. Jahrhunderts.
Stamms schmuckloses, klares Schreiben ist wie gesagt auch ein Wagnis. Zwar lässt er den Leser frei atmen und die Texte stehen wenn auch nicht übermäßig, so doch immer ausreichend unter Spannung. Aber oft ist eine Öde spürbar, die zur hastigen Lektüre drängt. Man kennt diese Öde auch von großen Kriminalautoren wie Ross Macdonald und Patricia Highsmith. Vor allem bei Highsmith finden sich häufig scheinbar belanglose Passagen, die simple, sich wiederholende Alltagsvorgänge wiedergeben, doch untergründig Unheil mit sich führen. Das Zeitgefühl, das wir beim Lesen empfinden, ist dann nicht mehr wohltuend, wie oben erwähnt bei Tolstoi, sondern unbehaglich, gestört, wie wir es in der heutigen Gegenwart häufig erfahren.
„Sieben Jahre“ zum Beispiel läse sich wie ein Highsmith-Thriller, wenn Stamm sich für eine personale Erzählweise entschieden und mit der Möglichkeit einer Gewalttat gespielt hätte, mit der Erwartung eines Mordes, der dann doch nicht geschieht. Große Literatur bremst aber immer auch unser Lesetempo und lädt uns zum nachdenklichen Verweilen und erneuten Lesen ein. Dass wir bei einem Satz, bei einer Passage verweilen und sie uns augenblicklich genügen, so als gäbe es den Rest des Buches nicht, ist eines ihrer vorrangigen Zeichen. Beim Lesen stellen sich dann Ruhe, Geduld und Langsamkeit ein.
Diesem allerhöchsten Anspruch könnte Stamm gerecht werden, doch ich habe den Eindruck, dass er sich in seinen letzten Werken von ihm entfernt hat. Die formale Strenge und Konzentration, die souveräne Verwendung von Leitmotiven, Symmetrien, Metaphern und Chiffren wie in „Agnes“ findet sich in den späteren Werken so nicht wieder. Nicht ohne Grund ist „Agnes“ Schullektüre geworden. Die Vieldeutigkeit des Buches sichert ihm bleibende Qualität. Die „reine“ Agnes, eine weltliche Heilige, stirbt den Liebestod, als Märtyrerin der unverfälschten, wahren Empfindungen, denen sich der Erzähler, der angepasster an die gesellschaftlichen Bedingungen ist, entfremdet hat.
Wie Pullmans Arbeiter – der Erzähler schreibt an einem Sachbuch über den legendären amerikanischen Unternehmer – gegen die totalitäre Kontrolle ihres Lebens aufbegehren, die ihr Arbeitgeber in seiner visionären Musterstadt wohlmeinend eingerichtet hat, so lässt sich nicht unterscheiden, ob sich das Paar eine Hölle oder ein Paradies bereitet. Beide sind zugleich Pullman und seine Arbeiter. “Wer sich verliebt, verliert zuallererst einmal Freiheit“, so Stamm in einem Essay für die „Neue Zürcher Zeitung“. Er verliert seine Freiheit wie die Industriearbeiter und will aus diesem Gefängnis irgendwann ausbrechen oder er passt sich dem totalitären System an.
Die Gesetze der Ökonomie
In den beiden Romanen, die auf dieses kanonische Werk folgten, geht es um Neuanfänge, um Versuche, das eigene Leben zu ändern, um jenen Schritt, den der namenlose Erzähler von „Agnes“ nicht unternimmt. Woher aber kommt die emotionale Kälte der Männer, die feste Bindungen an Frauen scheuen und Gefühle nicht zulassen? Andreas in „An einem Tag wie diesem“ hat zwei Geliebte: mit Sylvie trifft er sich immer am Mittwochnachmittag, mit Nadja alle zwei Wochen abends. Sylvie ist verheiratet, das erotische Rendezvous mit Andreas ist ein Termin wie andere in ihrer Agenda, wie ein regelmäßiger Besuch bei der Maniküre. Und die Abende mit Nadja verlaufen „immer gleich“. Sie sind ebenfalls rein funktionaler Natur:
„Mit einer theatralischen Geste ließ sie den Mantel auf den Parkettboden fallen. Sie setzte sich aufs Sofa und schlug die Beine übereinander. Für sie schien das der Höhepunkt des Abends zu sein, ihr Auftritt.“
Die Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit der Stamm-Helden hat ihre Ursache in einer Welt, in der nur doch die Gesetze der Ökonomie herrschen. Die Vielfalt der Möglichkeiten führt dazu, dass keine ergriffen wird. Eine Angst vor Entscheidungen, davor sich festzulegen, herrscht überall. Ein Kind: das wäre die Rettung, die aber nicht als solche wahrgenommen wird. Denn dem Erzähler in „Agnes“ scheint nichts so viel Schrecken einzujagen wie die Vorstellung eines Familienlebens. Er wolle kein Kind, er könne kein Kind gebrauchen, sagt er zu Agnes. In „Ungefähre Landschaft“ vermag Kathrine keine tiefe Bindung zu ihrem kleinen Sohn, von dessen Vater sie sich getrennt hat, aufzubauen. In „An einem Tag wie diesem“ steht Andreas dem Lebensmodell Familie, wie es ihm bei seinem Bruder begegnet, skeptisch gegenüber. Seine Lebenskrise manifestiert sich in der Angst vor einer ärztlichen Diagnose. Er zieht das Ungefähre, die Ungewissheit vor, will sich nicht der Wahrheit stellen, und sei sie auch eine Erlösung.
Wege der Verwandlung – Stamm und Handke
Vergleiche ich „An einem Tag wie diesem“ mit Handkes „Die Stunde der wahren Empfindung“ von 1975 – es gibt da nämlich einige Parallelen: ein Ausländer, der in Paris lebt, ein Mann mit Beziehungen zu mehreren Frauen, die Geschichte einer Verwandlung, einer Sinnsuche, einer Bedrohung – so glaube ich zu erkennen, dass Stamms Andreas dem Geheimnis des Daseins gleichgültiger gegenüber steht als Handkes Gregor. Beide leiden an der Unwirklichkeit ihrer Erfahrungen, aber Gregor öffnet sich mehr und ist bereit, das Staunen zu lernen.
„Indem ihm die Welt geheimnisvoll wurde, öffnete sie sich und konnte zurückerobert werden“: heißt es einmal. In Handkes Buch ist Paris präsent, Stamms Roman könnte auch in jeder anderen europäischen Stadt spielen. Handkes Poesie des Profanen, sein Bestreben einen neuen Sinn zu stiften, durch die Genauigkeit der Wahrnehmung, durch eine andere Wachsamkeit, fehlt in Stamms Schreiben nicht ganz, doch beschränkt sie sich auf Text-Inseln. Während bei Handke aus dem Vorhandenen, Vorgefundenen eine Gegenwelt entsteht, doch nicht in einem romantischen Sinn, um das Eigentliche sichtbar zu machen und die Gegenwart zu „ent-bergen“, um dem Leben ein anderes Vorzeichen zu geben, löst sich Stamms Andreas nur zaghaft aus dem Uneigentlichen, Falschen. Von ihm heißt es:
„Er hatte nie ein sehr klares Bild seiner selbst gehabt. Vielleicht hatte er deshalb ein so regelmäßiges Leben geführt. Die Gleichheit seiner Tage war sein einziger Halt gewesen. Ohne Stelle, ohne Wohnung, ohne Stundenpläne, die regelmäßigen Treffen mit seinen Geliebten und seinen Freunden war er nur noch ein winziger Punkt in einer bedrohlich leeren Landschaft.“
Bei Handke geht es immer wieder um Wege der Verwandlung und seine Figuren beschreiten sie auch. Bei Stamm vermögen die Menschen den einst gewollt oder ungewollt eingeschlagenen Weg kaum zu verlassen. Zwar unternehmen sie Fluchtbewegungen aus den Verhältnissen, doch oft geraten sie nur in neue Abhängigkeiten. Seine Figuren akzeptieren zunächst einmal die Welt wie sie ist, passen sich an, um voranzukommen. Es sind Menschen, die den Kopf nicht frei bekommen, die sich dies allenfalls erträumen. Kathrine und Andreas kommen dem „Offenen“ noch am nächsten. Stamms Schreiben versucht nicht über Grenzen zu gehen, dem Denken Neuland zu erschließen oder sich gar an das Unsagbare zu wagen. Er bleibt bei der modernen, kapitalistisch deformierten Gesellschaft, die kein Zentrum mehr habe, wie er einmal sagt, und das fasziniere ihn. Er zeigt auf melancholische Weise Menschen, die in dieser Gesellschaft eingeschlossen sind, sie hinzunehmen scheinen.
Zum Beispiel „Sommergäste“
Eine Besonderheit seines Schreibens ist es, dass er sich an das Genre der Kurzgeschichte wagt, das in der deutschsprachigen Literatur nie eine Tradition wie in den USA ausbilden konnte. In seinen Kurzgeschichten sind die Plots oft origineller als in den Romanen. Sehr empfohlen sei die Erzählung „Sommergäste“, die leider etwas kurz geraten ist, Potential zu einer feineren Ausarbeitung gehabt hätte. Stifter fiel mir ein, was er wohl aus dieser Konstellation gemacht hätte: Ein Literaturwissenschaftler quartiert sich in einem einsam gelegenen, alten Schweizer Hotel ein, das nur von einer Frau bewirtschaftet wird, oder auch nicht, denn dem Erzähler kommen bald Zweifel, ob das Hotel tatsächlich von der jungen Frau mit dem fremdländischen Akzent betrieben wird. Dennoch richtet er sich dort ein und nimmt die merkwürdigen Umstände – sie ernähren sich von Konserven, in der Küche stapelt sich ungespültes Geschirr, die Duschen funktionieren nicht und weitere Gäste treffen nicht ein – einfach hin, driftet ab in diese traumartige Existenz.
Zwischen den beiden einzigen Hotelbewohnern baut sich auch eine erotische Spannung auf, bis schließlich zwei Besucher eintreffen. Das eingängige, behutsame Erzählen lässt hier die ungewöhnlichen Vorgänge wie so oft bei Stamm ganz plausibel erscheinen. Er umgeht in seinen besten Arbeiten die lauernde Trivialität, weil er große Fragen immer wieder aus anderer Perspektive betrachtet – es sind philosophisch-psychologische Urthemen menschlicher Existenz: Warum liebt man diesen Menschen und nicht einen anderen? Ist es möglich nur einem Menschen treu zu sein? Glück/Unglück in der Partnerschaft oder lieber Freiheit? Hätte ich anders leben können, sollen? Soll ich mein Leben ändern? Ist die Fremde zwischen Mann und Frau überwindbar? Wie soll man in einer Welt leben, die keine moralische Orientierung mehr vorgibt?
Der Einbruch des Irrationalen
Oft wird ein Protagonist in seiner anti-religiösen, mehr noch anti-metaphysischen Bewusstseinslage von schicksalhaften Vorgängen, vom Irrationalen einer Leidenschaft, einer Obsession, aus dem Gleichgewicht gebracht, wie in „Sieben Jahre“. Dieser Roman greift noch einmal das Motiv der Liebe als Konstrukt aus „Agnes“ auf. Und den Gedanken, dass Lieben immer auch Schuldigwerden bedeutet. Iwona ist, so unterschiedlich beide Frauen sind, eine geistige Schwester von Agnes, beide sind Opfer, beide opfern sich, beide werden missbraucht und haben doch ihrerseits eine seltsame Macht über den geliebten Mann. Eine Passage aus „Sieben Jahre“ könnte auch aus der Gedankenwelt des Erzählers von „Agnes“ stammen:
„Im Grunde war meine Beziehung zu Iwona von Anfang an nichts als eine Geschichte gewesen, eine Parallelwelt, die meinem Willen gehorchte und in die ich mich begeben konnte, wann immer ich wollte, und die ich verließ, wenn ich genug von ihr hatte. Vielleicht war unsere Beziehung auch für Iwona nur eine Geschichte.“
In beiden Fällen markiert dann die Schwangerschaft den unabweisbaren Einbruch der Realität.
Stamms einfache Sprache ist in einer komplizierten Welt wohltuend. Die Nacktheit dieser Sprache ist vielleicht Stamms Antwort auf die tendenzielle Unerzählbarkeit der zeitgenössischen Realität. Er bleibt weitgehend an der Oberfläche, um die komplexe Tiefe desto wirkungsvoller als Resonanzboden nutzen zu können. Es war zu lesen, Stamms Schreiben bewege sich am Rande des Kitsches, der Banalität, doch es sind der Kitsch und die Banalität der Welt, denen er nicht ausweicht, die er sichtbar macht als Kehrseite unseres marktwirtschaftlichen Wohlstandes, unserer trostlosen Rationalität. Darin ist Stamm radikal, unerbittlich, uns mit der Nase auf die Trivialität unserer Existenz zu stoßen. Bevor sein Schreiben aber selbst trivial werden sollte, muss sich Stamm wieder auf die schlichte Schönheit und Ökonomie seiner ersten Werke besinnen.
Götz Kohlmann hat Peter Stamm interviewt: „5 Fragen an Peter Stamm“. Und am Sonntag widmet sich Prof. Pu Peter Stamms Roman „Nacht ist der Tag“.