„Die Komplexität der Welt ist ja eine der Sprachen“ Fünf Fragen an Peter Stamm

Foto: Ludovic Péron Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0Götz Kohlmann hat den Mainzer Stadtschreiber Peter Stamm befragt und dabei etwas über Sprache, Schreiben und das Kino erfahren:

Ist es eine Aufgabe der Literatur, eine utopische Dimension zu entfalten, den Traum einer anderen Welt zu träumen, oder sollte sie sich allein mit der Realität befassen, wie sie nun einmal ist?

Peter Stamm:  Ich verteile nicht gerne Aufträge, schon gar nicht an Künstler. Ich denke, die Literatur kann mit gutem Recht alle drei Dinge tun, aber ich gebe zu, dass mich vor allem jene Bücher interessieren, die sich mit der Realität befassen. Aus dem einfachen Grund, dass die Realität unendlich viel reicher und spannender ist, als es ausgedachte Welten je sein können.

Glauben Sie, dass die Mittel der Literatur auch künftig mit den Veränderungen der Wirklichkeit in einer immer komplexeren Welt Schritt zu halten vermögen?

Peter Stamm: Ich sehe überhaupt keinen Hinweis darauf, dass die Sprache in der Zeit meines Lebens an Bedeutung verloren hätte. Im Gegenteil. Es mag sein, dass es noch nie so viele Bilder gab wie heute, aber auch an Worten mangelt es nicht. Die zunehmende Komplexität der Welt ist ja weitgehend eine der Sprachen. Auch Computer bedienen sich Sprachen, die noch immer von Menschen geschrieben wird. Und so lange wir uns mit Sprachen auseinandersetzen, wird auch das Spiel mit den Sprachen immer seinen Platz haben und neue Formen finden.

Haben Sie einen ausgearbeiteten Entwurf, bevor Sie einen Roman (eine Erzählung) zu schreiben beginnen oder fangen Sie einfach mit einigen vagen Ideen an und werden von der Geschichte im Entstehen überrascht?

Peter Stamm: Ich fange mit einer vagen Idee, einer Frage, einer Person, einem Ort an, die mich zu einem ersten Satz führen muss. An den ersten Satz hänge ich einen zweiten, dann kommen der dritte und der vierte. Während des Schreibens versuche ich etwas in die Zukunft zu schauen, prüfe Möglichkeiten, aber was genau geschieht, weiß ich immer erst, wenn ich den entsprechenden Satz geschrieben habe.

Von welchen Autoren glauben Sie beeinflusst zu sein? Und nennen Sie bitte ein großes, klassisches Werk, das Sie leider noch nicht gelesen haben.

Peter Stamm: Man wird ja nicht nur von den Autoren beeinflusst, die man mag, sondern auch von jenen, deren Werke man nicht mag. Aber von denen, die ich mag, haben mich sicher Hemingway, Pavese, Poe und Ibsen beeinflusst, Camus, Dürrenmatt, Montherlant und Flaubert, Musil, Thomas Mann, Graham Greene, Joyce, Gide und viele mehr. Leider habe ich Proust nie gelesen. Ich wollte die Recherche immer im Original lesen, aber dazu ist mein Französisch nicht gut genug und schließlich habe ich sie gar nie gelesen.

Zum Schluss eine Frage an den Kinogeher Peter Stamm: Nennen Sie bitte einige Ihrer Lieblingsfilme – möglichst einen, der vor 1940 gedreht wurde, einen der vor 1980 gedreht wurde, einen, der vor 2000 gedreht wurde und einen aus der jüngsten Zeit.

Peter Stamm: Ich habe vor einigen Tagen in einer Freundesrunde das Lob des Kinos der fünfziger und sechziger Jahre gesungen. Fast alle für mich wichtigen Filme stammen aus jener Zeit, 8 1/2 von Fellini, Wilde Erdbeeren von Bergmann, die besten Filme Antonionis. Von den etwas späteren mag ich fast alle Filme von Eric Rohmer, die späten von Godard, vor allem „Weh mir“. Leider fällt mir kaum ein neuerer Film von großem Format ein, am ehesten Ang Lees „The Ice Storm“ (den deutschen Titel kenne ich nicht) oder „Der Untergang des Amerikanischen Imperiums“ von Denys Arcand. Und natürlich die wunderbare Trilogie, die mit „Before Sunrise“ anfing, und von der ich erst zwei Teile gesehen habe. (Von Regisseur Richard Linklater – Anmerkung der Redaktion).

Morgen schaut Götz Kohlmann genauer auf die Romane von Peter Stamm: „Schriftsteller als Stellvertreter“.

Das Foto von Peter Stamm ist das Werk von Ludovic Péron.
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