Podcast 8: Terminus

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Hendriks imaginäre
phantastische Anthologie
NICER FICTIONS, Band 1,
Zweite Geschichte
Stanis?aw Lem
TERMINUS
(Terminus, 1968)

Moment mal, sagte sich Pirx. Ruhig, nur ruhig…
Er griff ein zweites Mal nach dem Logbuch. Eine schwungvolle, deutliche Schrift, die Tinte war verblichen. Da, der erste Reisetag. Der zweite, der dritte. Kleines Leck im Reaktor – 0,4 Röntgen pro Stunde – Plombiert – Kursberechnungen – Sternfix.
Weiter, weiter! Pirx las nicht mehr, seine Augen hüpften über die Zeilen.
Da! Das Datum, das er sich in der Schule eingeprägt hatte, und darunter stand: 16:40 Uhr – Dejmos warnt vor einer aus der Jupiterperturbation der Leoniden stammenden Wolke, die mit Kollisionskurs bei einer Geschwindigkeit von 40 km/sec durch eigenen Sektor fliegt – Der MW-Empfang bestätigt – Für Besatzung – PM-Alarm erklärt – Trotz des Lecks im Reaktor von 0,42 Röntgen pro Stunde Ausweichmanöver mit voller Kraft und approximativem Kurs auf Oriondelta.
Darunter neue Zeile: Um 16:51 auf… Der Rest der Seite war unbeschrieben.
Keine Vermerke mehr, keine Kritzeleien, keine Flecke – nichts. Der letzte Buchstabe widersprach den Regeln der Schönschrift, er ging in einen langen, jäh abfallenden Strich über.

Zu meinen dauerhaften Favoriten unter den SF-Werken meiner Buchsammlung gehören die beiden Bände mit den gesammelten Erzählungen des Piloten Pirx (”Terminus” und “Die Jagd”). Der sich selbst als etwas linkisch empfindende, schweigsame Pirx (zu Beginn der Geschichten noch Raumkadett, später Navigator und Pilot) ist ein merkwürdig sympathischer Antiheld, und seine Erlebnisse sind die literarische Erdung des naturgemäß stets im Abheben befindlichen SF-Genres.

Während in genüßlich möglichkeitentrunkenen Space Operas kosmische Entfernungen auf das Vernachlässigbare geschrumpft sind und im Inneren der Habitate zukünftiger Menschen die vollkommene Sterilität erzählerischer Spielwelten herrscht, verankern die Erlebnisse Pirx’ die gedachten Welten in der oft störenden Sinnlichkeit unseres Alltags: Pirx schlägt sich während seiner Abschlußprüfung mit einer nervtötenden Fliege im Cockpit seiner Rakete herum. In einer anderen Geschichte ist er einsamer Zeuge des Vorbeiflugs des Raumschiffs einer fremden Rasse, was ihm jedoch niemand glauben wird, weil er sich an Bord einer schrottreifen Schlepperrakete befindet, deren Systeme nicht funktionieren und deren Besatzung teils betrunken ist, teils mit Mumps im Bett liegt. Wer sich je daran gestört hat, daß bei Star Trek nie jemand auf die Toilette geht und bei Bedarf mit nur einer kleinen Reisetasche ans andere Ende der Galaxis aufbricht, der kann bei der ersten Begegnung mit den Pirx-Geschichten nur denken: “Endlich!”.

Es ist die große Leistung Lems, daß Pirx dabei nie zur Witzfigur wird, denn er ist paradoxerweise ebenfalls die Verkörperung des Traums vom Menschen im All: nicht des selbstreinigenden Überwesens, sondern des Durchschnittsmenschen, den man an der Bar des Marshotels oder im Wartesaal der Orbitalstation trifft.

Unter meinen besonders liebgewonnenen Pirx-Erzählungen habe ich mich nach dem Wiederlesen für “Terminus” entschieden, weil sie eine zusätzliche dramatische Komponente aufweist. “Terminus” ist für mich auch eine sehr atmosphärische, ‘gotische’ Tragödie, durchaus unheimlich und ergreifend, selbst wenn die tragische Hauptfigur gar kein Lebewesen ist. Es gibt uralte Stimmungen und verstaubte Ängste in uns, kaum je betretene, mit Gerümpel angefüllte Winkel unserer Psyche. “Terminus” erzählt davon, daß auch die Abbilder unserer Psyche im All stets solche Räume enthalten werden, jenseits aller Tricorder-Messbarkeit.

Ich fand diese Geschichte in…: Stanis?aw Lem, “Terminus, und andere Geschichten des Piloten Pirx”, Suhrkamp Verlag, Frankfurt.

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