Folge 1319 – In vier Folgen widmen wir uns Gillo Pontecorvos Meisterwerk SCHLACHT UM ALGIER. In der dritten Folge beschäftigen wir uns mit der Rezeptionsgeschichte. Für diesen wirklich herausragenden Film habe ich mir kompetente Unterstützung geholt: Dr. Joachim Görgen, der sowohl in Frankreich als auch in Algerien als ARD-Korrespondent gearbeitet hat.
Folge 1319
SCHLACHT UM ALGIER: Die Rezeptionsgeschichte
Länge: 34:23
Worum geht es? Wir sind in Algier 1957. Die Franzosen sind die Kolonialmacht in Algerien, französisches Militär und Polizei kontrollieren alles, sie bilden eine zivile, offenbar wohlhabende Oberschicht. Einige Algerier der FLN beginnen einen Aufstand, ausgehend von der Kasbah, der Altstadt in Algier. Polizisten werden getötet, es werden gegenseitig Bombenattentate verübt. Die französischen Fallschirmjäger werden gerufen – der Kommandeur Colonel Mathieu jagt die Anführer des Aufstands, vor allem Ali la Pointe. Grausamkeiten von beiden Seiten wie die Folter von Verdächtigen durch die Franzosen und die Morde der FLN an „Verrätern“ sehen wir ungeschönt. Der italienische Regisseur Gillo Pontecorvo hat den Film 1966, also bereits vier Jahre nach Ende des Algerienkriegs, gedreht – unter besonderen Umständen.
Nachdem wir uns in der zweiten Folge mit den historischen Hintergründen beschäftigt haben, werfen wir diesmal einen Blick werfen auf die Rezeption und stellen uns folgende Fragen: Wie war die Rezeption damals 1966? Wie lange gab es Aufführungsverbote? Wie war die Rezeption 2004 als der Film einer breiteren frz. Öffentlichkeit bekannt wurde? Und schließlich; Wie schätzen andere Regisseur:innen den Film ein?
Bernd Nitzschke schrieb: „In welcher Liga dieser Film angesiedelt ist, kann man durch die Passage eines Briefes verdeutlichen, den Billy Wilder 1994 an Steven Spielberg schrieb, in dem er dessen Film Schindlers Liste mit den Worten würdigte: „Was Sie geschaffen haben, ist mehr als bloß ein Film. Es ist […] ein ‚Panzerkreuzer Potemkin’‘ oder eine ‚Schlacht um Algier‘. Es ist schwarz-weiß. […] Es ist wahr. Es wurde nicht von Hollywood vorgegaukelt. Es ist wahr. Es ist ein leiser, quälender Schrei […]“ (zit. nach Karasek 2006). Genauso kann man den Film Schlacht um Algier charakterisieren: Er ist wahr. Er gaukelt nichts vor. Er ist ein leiser, quälender Schrei, der den Zuschauern durch Mark und Bein geht.“
Im Podcast sprechen wir u.a. darüber, dass der Film für verschiedene Seiten als miltärische Lehrstunde eingesetzt wurde. Auch den Offizieren der US-Streitkräfte wurde SCHLACHT UM ALGIER 2003 vorgeführt, um sie auf die Guerilla-Taktiken vorzubereiten. Wir werfen einen Blick auf die Einschätzung verschiedener Filmregisseur:innen, zum Beispiel Spike Lee, Steven Soderbergh und Oliver Stone, diskutieren über die Aufführungsverbote in Frankreich und zitieren Angela Errigo: „Der Film macht keinen Hehl aus seiner antikolonialistischen Überzeugung; aber furchtbare und herzzerreißende Szenen von Gräueltaten und Vergeltungsmaßnahmen sind lobenswert ausgewogen und zeigen beide Seiten des Konflikts und seinen schrecklichen menschlichen Preis. Der Film ist packend von Anfang bis Ende. […] Er hat nichts von seiner leidenschaftlichen Kraft verloren.“
Tom Schünemann von filmsucht.org sagt: „Gillo Pontecorvo erzählt diesen Konflikt ohne eine klassische Dramaturgie und verzichtet auch auf eine detaillierte Figurenzeichnung. Der französische Colonel und einige algerische Widerstandskämpfer spielen zwar eine wichtige Rolle, doch wir erleben die Akteure stets von außen; ihre private Seite und ihre innere Überzeugungen enthält uns der Film vor. Indem sich Schlacht um Algier von etwaigen Helden und einer an sie gebundenen Erzählung freimacht, kann sich Gillo Pontecorvo aus einer ambivalenten Position durch den Konflikt bewegen. Statt Einzelschicksale von Protagonisten in ein dramaturgisches Korsett zu pressen, konzentriert sich der italienische Regisseur auf das Gesamtbild und schildert den Krieg in Algier in vielen kleinen Episoden, die sich über mehrere Jahre erstrecken. (…) Aufgrund seiner eigentlich gegensätzlichen Mischung aus dokumentarischer Übersicht und fesselnder Distanzlosigkeit zählt Schlacht um Algier zu den unkonventionellsten Antikriegsfilmen – und zu den besten.“
Die vierte Folge erscheint am 22. Dezember und widmet sich den Beteiligten, den filmischen Mitteln und der Frage, ob SCHLACHT UM ALGIER Teil des italienischen Neorealismus ist.
Es ist nicht ganz einfach, an diesen Film heranzukommen. Online habe ich schließlich eine Bluray von cultfilms erworben mit arabisch/französischem Originalton und englischen Untertiteln.
Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: SchönerDenken
Musik: Johannes Klan
The Battle of Algier (La Battaglia di Algeri)
ITA 1966, 117 Min., Regie: Gillo Pontecorvo
Links
- Hervorragende, sechsteilige ARTE-Dokumentation über den Konflikt zwischen Frankreich und Algerien (bis Ende April 2025 in der ARTE-Mediathek).
- Hörenswerte Podcastepisode mit Lucas Barwenczik und den Abspannguckern (133 Min.)
- Tom Schünemanns Filmkritik auf filmsucht.org
- Italian Neorealism 1945-1953, Videoessay der Film & Media Studies
- Der italienische Neorealismus, Übersicht und Einordnung bei filmsucht.org
Literatur
Benjamin Stora
Histoire de l‘Algérie contemporaine 1830 – 1988
Casbah Editions, Alger, 2004
ISBN: 9961-64-461-1
Francois Malye / Benjamin Stora
Francois Mitterrand et la guerre d‘Algérie
Calmann-Lévy, Paris, 2010
ISBN: 978-2-7021-4080-2
Es ist kein Zufall, dass Benjamin Stora in beiden Fällen der Autor bzw. der Mit-Autor ist. Er gilt als der Fachmann für die Geschichte Algeriens. Er wurde 1950 in Constantine geboren und hat mit seiner Familie Algerien 1962 nach der Unabhängigkeit von Frankreich verlassen. Später hat er in Paris Geschichte gelehrt. In Talkrunden zum Thema Algerien ist er bis heute ein gefragter Gast. Beide Bücher gibt es allerdings nur auf französisch.
Literarisch unbedingt empfehlenswert ist das Buch „Die französische Kunst des Krieges“ von Alexis Jenni. 2011 hat er dafür den Prix Goncourt bekommen, die höchste Literaturauszeichnung Frankreichs. Zwischen der Hauptfigur des Romans, dem ehemaligen Offizier Victorien Salagnon, und Colonel Mathieu aus „La Bataille d’Algier“ gibt es viele Parallelen. Beide haben im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen und später in Indochina gekämpft. Beide waren im Algerien-Krieg. Das Buch zeigt sehr eindringlich, wie sehr die Kolonialgeschichte die französische Politik und die französische Gesellschaft bis heute prägt:
Alexis Jenni
L’art francais de la guerre
Editions Gallimard, Paris, 2011
ISBN: 978–2–07-045039-8
Alexis Jenni
Die französische Kunst des Krieges
Luchterhand, 2012
ISBN: 978-3630874029
Regisseure über SCHLACHT UM ALGIER