Hendrik geht auf eine Reise – und nimmt uns mit an Orte, wo wir noch nie gewesen sind … oder doch?
I.
Eines wird mir beim Erstellen einer Liste, welche Orte und Welten aus den mir bekannten Science Fiction-Büchern oder Filmen ich am liebsten würde bereisen wollen, rasch klar: die meiste SF ist an wirklich, wirklich ungemütlichen Orten angesiedelt, und als Leser bzw. Betrachter bin ich verdammt froh, dass ich nicht Gefahr laufe, den Fanatikerstaat Gideon (Margaret Atwood, Der Report der Magd) oder das Innere eines Borgkubus (Star Trek) oder den extremen Schwerkraftplaneten Planeten Dhrawn (Hal Clement, Schwere Welten) anwesender als ‚lediglich‘ lesend und betrachtend anwesend zu besuchen. Viele dieser Orte werden aus dramaturgischer Notwendigkeit oder als intellektuelle Versuchsanordnungen geschaffen, und nicht, um ein attraktives Reiseziel abzugeben. Sie sind giftig, von Monstren bevölkert, zu sehr oder zu wenig vermenscht, weisen eine zu hohe Schwerkraft auf, sind aus den verschiedensten Gründen zu instabil, zu lebensfeindlich oder auf andere Weise zu inhuman.
II.
Science Fiction ist, rein dramaturgisch gesprochen, nicht selten extreme Überlebensliteratur, und das muss sie auch sein, denn sonst könnte sie sich nicht so intensiv mit den existenziellen philosophischen Grundfragen beschäftigen, die eines ihrer Hauptmerkmale sind: die Frage nach dem Wesen des Universums, des menschlichen Seins, der – aus unserer Sicht – Kontinuität von Raum und Zeit, der Bedeutung des Lebens. Vor dem [intellektuellen] Fragen und Finden und Erfinden und Lernen muss stets die [dramaturgische] Irritation und Not stehen, denn so arbeitet nun mal unser Geist: er bewegt sich meist nur, wenn er dazu gezwungen wird. Die meisten SF-Welten sind daher Lebensräume, welche ihre Bewohner oder Besucher zwingen, aus Not das Undenkbare zu denken.
III.
Wenn ich also jetzt versuche, mir eine Liste der SF-Orte aufzustellen, die ich gerne würde besuchen wollen, dann ist mir schonmal die Unterscheidung wichtig, wie intensiv und ausgedehnt denn dieser Besuch ausfallen würde. Klar würde ich gerne mal Delos (Westworld 1973) sehen, jedoch den dort bepriesenen Urlaub in einer der Themenwelten würde ich wohl doch eher dankend ablehnen. Auch Orte wie Outland, die Zone (A.&B. Strugatzki, Picknick am Wegesrand bzw. Stalker, 1979) oder der Wüstenplanet wären für einen Besuch interessant; aber sich wirklich längere Zeit dort aufzuhalten? Ich weiß nicht. Wieder andere Orte würde ich gerne besichtigen, allerdings vorzugsweise in ortskundiger Begleitung – die leuchtenden Dschungel und schwebenden Berge Pandoras (Avatar, 2009) zum Beispiel – ganz klar einer der bildfaszinierendsten Orte der neueren Film-SF – oder die Flusswelt (Philip José Farmer), einem gigantischen Flusstal, in dem simultan alle Menschen leben, die jemals irgendwo existiert haben. Auch ‚kleinere‘ Orte kommen natürlich auf die Liste – welcher SF-Fan würde nicht mal gerne einen Spaziergang durch einen Bird of Prey (Star Trek) machen oder im Milliway’s (Douglas Adams, Das Restaurant am Ende des Universums) speisen? Äußerst reizvoll, und die Liste wäre vermutlich nach dem Durchgehen zweier meiner SF-Regale schon ungefähr einen Meter lang.
IV.
Ich benötige also zur Ermittlung einer engeren Auswahl ein weiteres Kriterium, und das ist mir die Feldintensität der imaginativen Verstärkung. Anders gesagt: Die Schilderung welcher Orte in der SF haben meine eigene Vorstellung von ihnen über den Rahmen dessen, was beschrieben oder gezeigt wird, hinaus angeregt und mich dazu verführt, mich in sie hinein zu versetzen, mich dort näher umsehen zu wollen? Wollen doch mal sehen.
Fast zwangsläufig überschneiden sich die Quellen vieler dieser besonders gemochten Orte mit meinen Lieblingsfilmen und den Werken einiger LieblingsautorInnen, denn genau eines meiner Hauptkriterien für die Einfühlung in solche Werke ist für mich stets der Ort, an dem eine Geschichte angesiedelt ist – zuweilen hängt dieses Kriterium das eigentliche Geschehen sogar ganz locker ab.
V.
Insofern dürfte es kaum verwundern, dass sich darunter auch sehr frühe SF-Eindrücke finden – Orte, die ich kennen lernte, als ich im Goldenen Zeitalter der SF weilte („The Golden Age of Science Fiction ist 12“ – Damon Knight sagte das, glaube ich), und bekanntlich sind solche frühen Reiseeindrücke oft die nachhaltigsten. Dorthin würde ich nicht gerne reisen – dorthin würde ich gerne ERNEUT reisen, denn auf den Ebenen, auf die es ankommt, war ich ja längst dort.
So hängt nicht umsonst in meiner Küche ein Bild von der weiten, menschenleeren Ebene von Altair-4, jenem Forbidden Planet (1956), unter dessen Oberfläche sich die unfassbaren Wunder einer untergegangenen Zivilisation befinden. Kaum ein anderer Ort hat mich schon in frühen SF-Mögerjahren und bis heute angezogen, vielleicht durch seine fast schon träumerische Entrücktheit und Stille, in welcher der Mensch, wenn er sich nicht ganz leise bewegt, im Grunde nur ein Störenfried sein kann. Vielleicht hat bei mir auch der dramaturgische Kniff des Filmes, die verborgenen Wunder stets nur anzudeuten, ohne sie über wenige Ausnahmen hinaus wirklich zu zeigen, einfach sehr gut funktioniert. In gewisser Hinsicht ist es zugleich einer der philosophischsten und einer der romantischsten Orte der gesamten SF, und das ist in den über 50 Jahren seit der Entstehung des Filmes so geblieben.
VI.
Beim Gedanken an Romantik in der SF kann man unmöglich den Mars der Erzählungen (Mars-Chroniken u.a.) Ray Bradburys nicht erwähnen, der als Handlungsort so unwirklich und so sehr ein Spiegel der Psyche ist, wie es in einem doch in der Regel sehr naturwissenschaftlich orientierten Genre zunächst kaum denkbar scheint. Was mir womöglich daran immer gefiel, war die in den Erzählungen mitschwingende Demut dem Universum gegenüber und das Bewusstsein: als Gast, Besucher und Zeuge der Wunder des Weltalls ist der Mensch willkommen, als dessen Eroberer und Bezwinger muss er dagegen stets scheitern. Nicht, dass ich nicht auch mal gerne Perry Rhodan gelesen hätte, was sich bezüglich dieses Kriteriums am ganz anderen Ende der Skala einparkt, aber während das Rhodan’sche Universum mir ein angenehmes kindliches Spiellesevergnügen bereitet[e], finde ich nur hier, am anderen Ende, jene Erdung, welche für mich das ganze Genre so wichtig macht. Daher muss auch der Mars Ray Bradburys auf meine Liste.
Im zweiten Teil führt uns Hendrik unter anderem auf ein Raumschiff namens „Ich gebe meiner Mutter die Schuld“.