Die Überprüfung der Zukunft

Hendrik liest Der ferne Ruf von Gordon R. Dickson

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„Vor tausend Jahren, selbst noch vor fünfhundert Jahren, bedeuteten die fünfzig Kilometer bis zur nächsten Stadt eine Weltreise, und manchmal kamen die Leute nicht lebend zurück, nicht nur, weil ihnen irgendwelche Feinde auf dem Weg auflauerten. Es gab Unfälle, Krankheit, alles das. Heute dagegen ist es keine große Sache mehr, von einem Kontinent zum anderen zu hüpfen. Und für unsere Ururenkel wird ein Weltraumflug auch keine große Sache sein. Der Mars bedeutet für sie dann vielleicht nur einen netten, kleinen Sonntagsausflug. Ich werde also vermutlich nie etwas Ärgeres als einen Sonntagsausflug unternehmen müssen, wenn du nur ein bißchen vorausdenkst.“
(Tadell Hansard, Marsnaut)

Das Cover des Romans „Der ferne Ruf“ (The Far Call) des u.s.-amerikanischen Autors Gordon R. Dickson erinnert sicher nicht zufällig stark an die Discovery II, das Jupiterraumschiff aus <2001 – Odyssee im Weltraum>. Auch die Vorstellungen, die der 1973 erstmals erschienene Roman von der ersten bemannten Mission jenseits des Erde-Mond-Systems entwirft, weisen die gleiche Tendenz wie Kubricks Klassiker auf, sich betont nicht in der Begeisterung für das plausibilitätsbefreite Erfindenkönnen einer möglichst farbenprächtigen Zukunft zu verlieren, sondern sich auf die völlig ausreichende Extrapolation der Gegenwart zu beschränken: zu zeigen, wie es – im Guten und Schlechten – tatsächlich sein könnte.

Dicksons Zukunft greift dabei zeitlich nicht so weit hinaus, wie es seinerzeit Clarke und Kubrick taten: in seiner Zukunft gibt es noch nicht die alltägliche Einbindung einer Orbitalstation in das weltweite Luftverkehrsnetz mit PanAm, und seine bemannte Mission geht ’nur‘ zum Mars, nicht zum Jupiter. Auch die metaphysische Ebene (für manche das Interessanteste, für manch andere das Abschreckendste an <2001>) fehlt bei Dickson fast völlig: es gibt kein Rätsel, das den Menschen zum Verlassen seiner planetaren Wiege motiviert, es gibt nur die unstillbare Neugier, den Tatendrang und, für einige Figuren, das Gefühl, die Menschheit müsse zum Selbsterhalt ihr Schicksal von dem der Erde abzukoppeln bestrebt sein.

So ist der nächste Schritt nach der erfolgreichen Mondlandung eine bemannte Mission zum Mars, ein so großes Unterfangen, dass seine Umsetzung der vereinten Anstrengungen vieler Nationen bedarf. Und das ist nun Dicksons eigentliches Thema: erzählerisch daran zu erinnern, dass sich unter dem Raumschiff selbst nicht nur eine Raketenstufe befindet, deren einzige Aufgabe darin besteht, das eigentliche Gefährt der Erdanziehungskraft zu entstemmen, sondern dass darunter wiederum gewissermaßen eine noch größere Zündstufe aus Wissenschaft und Politik sitzt, die ebenfalls reibungslos funktionieren muss, damit ein solches Vorhaben Chancen auf Erfolg hat. Und eben dies ist in Der ferne Ruf nicht der Fall.

Dickson lässt seinen Roman nur einen Tag vor dem Start der Marsmission beginnen, und zumindest einer der Hauptfiguren – Jens Wylie, ein junger enthusiastischer Journalist und politischer Sprecher des Raumfahrtprogramms – ist bereits klargeworden, dass unter den geschaffenen Bedingungen die Reise kein Erfolg werden kann: Jede einzelne der beteiligten Nationen wacht äußerst eifersüchtig über ihren Anteil am völlig überfrachteten Arbeits- und Experimentierpensum, das den sechs Marsnauten vom Beginn der mehrjährigen Reise an auferlegt ist, und niemand will wahrhaben, dass dies irgendwann zum völligen Zusammenbruch führen muss. Aber Änderungen des Programms sind politisch nicht gewünscht, und damit wird eine Kausalkette in Gang gesetzt, die einen Chaos-Theoretiker befriedigt nicken lassen würde.

Während die Ereignisse im All ihren Verlauf nehmen, muss sich der vergebliche Warner Wylie mit der schlichten Wahrheit auseinandersetzen, dass nur die wenigsten politisch für das Raumfahrtprogramm Verantwortlichen irgendein tatsächliches Interesse an der Erforschung des Weltraums oder irgendeine Art von Idealismus aufbringen: der große Traum der Menschheit ist für sie ein beliebiger Punkt auf der Tagesordnung. Als viel relevanter wird das gegenseitige Belauern und Überwachen angesehen: wer weiss was, wer mischt sich ein, wer liefert wem welche Informationen. Ich zähle es zu den gelungensten und realistischsten Aspekten des Romans, dass Dickson seine daran beteiligten Figuren dieses unterschwellige Hin und Her nicht zu einem sinnigen Ganzen zusammenführen lässt. Es gibt keinen brillanten ‚Masterplan‘, sondern jeder tut unreflektiert und routiniert, was er schon immer getan hat: der kleine Agent betreibt sein übliches Spiel mit örtlichen Informanten, der Sicherheitsmann bereitet skrupellos schonmal die Bloßstellung eines Kollegen vor, nur für den Fall, dass ein Sündenbock gebraucht wird.

Dickson entmystifiziert den Aufbruch des Menschen ins Weltall als nur ein weiteres politisches Schachbrett, auf dem Idealisten wie Wylie von vornherein auf verlorenem Posten stehen, weil sie die Regeln des Spiels nicht kennen. Und doch, trotz weitgehenden Scheiterns der Mission, sind es zuletzt hier im Grunde genau diese Idealisten, die den Sieg davon tragen, weil nur sie es wagen, der Verwirklichung eines Traums etwas zu opfern. Und wer gar nicht träumt, kann auch keine Träume verwirklichen, sondern verliert sich in Spielstrategien.

Was heute an Dicksons Roman interessant ist, ist vor allem der Umstand, dass wir uns allmählich dem Punkt nähern, von dem er vor über 35 Jahren erzählt hat. Und das versetzt uns in die Lage, seine Zukunftsvorstellung zu verifizieren. Natürlich stellen wir zunächst fest, dass einige der in den 70ern beliebten Zukunftsvorstellungen, die auch Dickson hier verwendet, sich bislang nicht durchgesetzt haben – weder „Visifone“ noch ein vereintes „Paneuropa“. Aber die hier geschilderte politische Trivialisierung des Menschheitstraums vom Schritt ins Weltall dürfte von der jetzigen Realität nicht weit entfernt sein, so wie dies auch in anderen Bereichen – z.B. dem Klimaschutz – der Fall ist, wo sich ein vernunftbegabter Mensch zwangsläufig fragt: „Sollte dieses Ziel nicht über allen Parteiinteressen stehen?“, um dann wieder einmal deprimiert festzustellen, wie völlig unfähig zu irgendeiner Form pragmatischer Lösungsfindung die angebliche Entscheidungselite der Menschheit ist.

Der ferne Ruf, heute gelesen, erweist sich damit als einer der SF-Romane, die gar keine sind, weil sie auch im Grunde auf der naheliegenden Zeitlinie nur ein bißchen vorausgedacht haben. Er erreicht längst nicht die dystopische Intensität der Werke John Brunners, aber er fügt der besseren Literatur um die kosmische Flüggewerdung der Menschheit einen wichtigen, erdenden Aspekt hinzu. Und doch gelingt es ihm, zuletzt eine hoffnungsvolle Perspektive zu bieten, von der sich evtl. die Macher von <Space Cowboys> zu der wundervollen Schlusssequenz ihres Filmes haben inspirieren lassen: dort ist es der todkranke Astronaut Hawkins, der zuletzt die Mission der Crew erfüllt und zugleich tatsächlich – wenn auch sterbend – seinen Lebenstraum erfüllt, den Mond zu erreichen; dies zu den swingenden Klängen von Dean Martins <Fly me to the Moon>. Und zurück bleibt das sichere Wissen: ohne Träumer kämen wir niemals irgendwohin.

Der ferne Ruf von Gordon R. Dickson erschien schon 1979 als Heyne-SF-Taschenbuch 3662 und ist natürlich längst vergriffen. Auch ohne Visifon kann man es aber innerhalb Paneuropas problemlos antiquarisch und günstig bekommen.

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