Ein Interview mit Jürgen Schütz, dem Herausgeber der Werkausgabe der Autorin James Tiptree jr. im Wiener Septime Verlag – Teil Eins
Wie schon einmal vor geraumer Zeit festgestellt: Der Freund gehobener phantastischer Literatur hat es – nicht nur im Deutschsprachigen – oft schwer mit der Befüllung seiner Lesewürdigungsvitrine mit Buchausgaben, deren editorische Qualität und äußere Gestaltung dem Inhalt auch tatsächlich gerecht werden. Wer als Schreibende(r) einmal das Genreetikett ‚Fantasy‘ oder ‚Science Fiction‘ aufgebrummt bekommen hat (ob zu Recht oder nicht), schafft es nur selten in die Hardcoverprogramme von Verlagen, die sich Zeit nehmen für eine wirklich adäquate Aufbereitung. Oft sind es dann ambitionierte Kleinverlage, die sich mit viel Herzblut eines speziellen Autor(inn)enwerkes annehmen – wie der Berliner Golkonda Verlag für die Gebrüder Strugatzki oder die Edition Andreas Irle für das Werk von Jack Vance.
Nun hat endlich ein weiterer großer Name der Phantastik Eingang in die kleine Gruppe derer gefunden, deren Literatur es in guter Übersetzung und schöner Aufmachung zu erstehen gibt – jenseits von genreorientierten Taschenbuchausgaben, denen sich zu verweigern so manchen Buchfreund schon um beeindruckende Leseerlebnisse gebracht hat. Zu diesem Anlass führten wir ein Ferninterview mit dem, der sich mit diesem Werk besonders gut auskennt: Jürgen Schütz, der Inhaber des Wiener Septime Verlages.
HS: Guten Tag Herr Schütz!
JS: Hallo Herr Schulthe!
HS: Bevor wir zu Ihnen und Ihrer Edition der Werke James Tiptrees kommen, möchte ich den damit unvertrauten Lesenden Gelegenheit geben, diese Autorin zunächst in aller Kürze – später dazu natürlich mehr – kennenzulernen. Könnten Sie uns zunächst in wenigen Worten zusammenfassen, wer James Tiptree jr. war?
JS: Alice B. Sheldon a.k.a. James Tiptree Jr. war, wie in ihrer Biographie nachzulesen, eine sehr intelligente Frau mit einem unglaublichen Leben. […] Dieses Leben hat sie in ihre Erzählungen verpackt. Seien es Erlebnisse aus Afrika in ihrer Kindheit, ihre Einstellung zur Homosexualität oder letztendlich ihr Selbstmord – alles findet sich in ihren Geschichten wieder. Seitdem ich ihre Biographie las, hat sich mein Blick auf ihre Erzählungen stark verändert. Ihr Gesamtwerk ist auf irgendeine Art (wie wahrscheinlich bei vielen Schriftstellern) ihre Autobiographie.
HS: Ich ergänze für die mit Tiptree noch Unvertrauteren vielleicht noch kurz, dass Sheldon ihre erste der Phantastik zugerechnete Erzählung „Birth of a Salesman“ 1968 im Alter von 52 Jahren unter dem männlichen, erst Jahre später aufgedeckten Pseudonym James Tiptree jr. veröffentlichte und sich in den darauffolgenden Jahren mit vergleichsweise wenigen, jedoch literarisch hochkarätigen Erzählungen einen festen Platz in der Aufmerksamkeit von Lesern und Verlegern sicherte – den sie, zumindest in den U.S.A., eigentlich nie wieder einbüßte.
Mir selbst sind die ersten Geschichten Tiptrees erst zu einem Zeitpunkt begegnet, als ich bereits erklärter Freund vieler Arten von Phantastik war und zumindest im Ansatz spüren konnte, an welchen erzählerischen Konventionen sich Tiptree teilweise womöglich gerieben hat – vom Hurramenschentum der klassischen Space Opera sind ihre Geschichten ja doch recht weit entfernt. Wie würden Sie das Werk Tiptrees charakterisieren?
JS: Sie ist zweifelsohne bei der Kurzprosa zu Hause. Die beiden Romane, die sie schrieb, entstanden nur auf Druck der Verlage und dem Verlangen nach einem Roman. Im deutschsprachigen Raum ein Schaden, da hier die Romane allgemein einen höheren Stellenwert haben beim Publikum. Der Vorteil allerdings liegt ebenfalls auf der Hand: auf diese Art und Weise konnte sie wie viele ihrer Schriftstellerkollegen ihre zahlreichen Ideen umsetzen, wovon wir heute profitieren. Charakterisiert hat es sehr gut Denis Scheck: Ich bin mir ziemlich sicher, dass man im 22. Jahrhundert Tiptree lesen wird wie wir heute Kafka. Dem kann ich nichts hinzufügen.
HS: Der Vergleich mit Kafka ist interessant, zumal diese Ehre für gewöhnlich eher Philip K. Dick zugestanden wird. Überhaupt scheint es bei aller Verschiedenheit einige Parallelen zwischen Tiptree und Dick zu geben – darauf möchte ich nachher noch einmal zurückkommen. Zunächst etwas anderes: Sie haben womöglich bemerkt, dass ich in den Fragen bislang den Begriff Science Fiction vermieden habe, denn tatsächlich scheinen mir viele Erzählungen Tiptrees zu diesem Etikett (so weitgefasst es verstanden werden kann) nicht recht zu passen – selbst dort, wo Tiptree klassische SF-Requisiten verwendet. Lange Passagen erinnern mich in ihrem Umgang mit Metaphern und Emotionen eher z.B. an Magischen Realismus. Phantastik-Koryphäe John Clute bezeichnet Tiptrees Erzählungen als „extrovertiert, freudig und voller Kraft, aber auch verblüffend ernst“. Wie sieht Ihr persönlicher Zugang zu Tiptrees Erzählungen – und überhaupt zur Phantastischen Literatur – aus?
JS: Ich stimme Ihnen zu, James Tiptree Jrs. Werk auf Science Fiction zu reduzieren wäre ein Fehler. Wie auch andere Autoren des Genres nutzt Alice B. Sheldon diese Plattform für sozialkritische Texte. Ich hörte einmal einen schönen Satz zu diesem Thema: Alle stoßen sich an Aliens, wären die Protagonisten in den Büchern mit einem weissen Wal konfrontiert, wäre es automatisch anspruchsvolle Literatur. Ein schönes Beispiel wäre hier „Die Zeitmaschine“ von H.G. Wells – das ist doch keine Science Fiction!
HS: … und hätte Melville über einen Raketenpiloten namens Ahab auf der Jagd nach dem großen Weißen Kometen geschrieben, hätte er heute vermutlich nur einen Bruchteil seines verdienten Klassikerstatus – soviel wohl zum Thema Sinnhaftigkeit von Genregrenzen. Was Wells betrifft, da würde ich allerdings widersprechen wollen. Für mich ist ein Werk wie „Die Zeitmaschine“ ganz eindeutig Science Fiction – und zwar im besten Sinne, jedoch nur in zweiter Linie wegen der darin enthaltenen technischen Fiktion.
Viel wesentlicher ist selbstverständlich die Extrapolation über kulturelle und gesellschaftskritische Themen: eine soziologische Versuchsanordnung, erarbeitet mit den Mitteln einer erzählenden Fiktion. Aber – da treffen wir uns vermutlich wieder – das Werk findet seinen wesentlichen Wert sicherlich nicht in dem, was die meisten unter Science Fiction verstehen. Deswegen ist mir zuweilen der etwas nebulösere Begriff der Phantastik lieber. Meinen Sie, diese häufigen Vorbehalte gegenüber bestimmten Formen der Phantastik, überhaupt der säuerliche Beiklang, der dem Begriff ‚Genre‘ oft angeheftet wird – ist das ein deutschsprachiges Phänomen?
JS: Ich fürchte nicht. Ich habe im Zuge der Arbeit an der Tiptree-Biographie mit der Autorin Julie Phillips einige E-Mails gewechselt und auch hier kam das Thema auf. Es ist in den USA nicht viel leichter, James Tiptree Jr. oder Philip K. Dick in der allgemeinen Literatur zu etablieren. Vielleicht ist dies auch ein Grund, warum es bislang noch in keiner Sprache eine Werkausgabe gab. Bei PKD waren sicher auch die zahlreichen Verfilmungen Grund für die hohen Auflagen auf englisch und später auf deutsch.
HS: Was macht für Sie persönlich den Reiz der Phantastik aus?
JS: Das Phantastische Element in Literatur und Film ist das Gewürz, dass die Geschichten reizvoll macht, zumindest für mich – in vielen Romanen arbeiten die Autorinnen und Autoren gern mit solchen Mitteln. Für Leser wie mich wird es spannender – das Rätselhafte macht es interessant. Wenn es nicht übertrieben wird, eine tolle Sache. „Die Zeitmaschine“ ist da wieder ein schönes Beispiel, oder wenn’s etwas ganz Bekanntes sein darf: Kafkas Käfer.
Zurück zu Tiptree – ja klar, sie bedient sich sämtlicher Mittel, die zur Verfügung stehen, sei es Phantastik, natürlich SF (sie war Star Trek-Fan der ersten Stunde) und natürlich auch Elemente, die man im magischen Realismus ebenfalls wieder findet. Das ist das Spannende an James Tiptree Jr. – es ist für alle was dabei, wenn man die Geschichten an der Oberfläche betrachtet, und wenn man in die Tiefe geht, gibt es keine einzige Erzählung, die nur der Unterhaltung dienen soll.
HS: Das erinnert mich daran, dass eine meiner liebsten Erzählungen von Tiptree sich auf Star Trek bezieht (Beam Us Home, 1969); darin geht es um einen jungen Mann, der ein vorbildliches unauffälliges Leben lebt – in der ernsthaften und festen Gewissheit, Mannschaftsmitglied der Enterprise auf einer Außenmission zu sein, bei der es darum geht, sich in eine fremde zu erforschende Kultur (unsere) zu integrieren und diese zu beobachten – ich freue mich darauf, auch dieser Erzählung in neuer Übersetzung in einem der noch ausstehenden Bände wiederzubegegnen.
In dieser und anderen Erzählungen, z.B. „Coda“ oder „Mit zarten, irren Händen“ (beide aus „Zu einem Preis“), habe ich oft das Gefühl, Tiptree habe ihre Figuren wirklich gemocht, sich jedoch dazu gezwungen, nicht nett zu ihnen zu sein, damit ihr Schicksal Vehikel bleiben konnte für das, was Tiptree ihnen mitgeben wollte. Das ist einer der Aspekte, wo sie mich an Dick erinnert: selbst hinter den komischen Momenten verbirgt sich tatsächlich spürbar eine sehr ernste Weltsicht. Glauben Sie, Tiptree hat die Menschheit insgesamt für einen hoffnungslosen Fall gehalten?
JS: Eben nicht. Julie Phillips schreibt in der Biographie, dass die Sheldons ihr Vermögen dem American Friends Service Committee vermachten und dass es Frauen, indianischen Ureinwohnern und der Hospizbewegung zugute kommen sollte. Julie Phillips: „Es war zu guter Letzt nicht die Erde, der sie helfen wollte, sondern die Menschheit“. Ich sehe es eher so: James Tiptree Jr. hat immer nur gewarnt, jedoch nie die Hoffnung verloren.
HS: Wovor hat sie gewarnt? Dass die Menschheit – um auf eine Bemerkung Tiptrees über sich selbst zurückzugreifen – den Unterschied zwischen ihren ‚bloßen‘ Talenten und dem wahren Können, dem eigentlich Wichtigen nicht begreift und sich letzten Endes verschwendet?
JS: Sehr schön ausgedrückt. Bestimmt auch das – aber vor allem zeichnet ihre Texte aus, dass sich einfach sehr viel zeitlos gültige Kritik darin befindet, die auch heute noch aktuell ist.
Der zweite und abschließende Teil des Interviews findet sich hier.
Das Interview führte Hendrik Schulthe für SchönerDenken.
Der Text steht wie immer bei uns unter einer Creative Commons-Lizenz.