Jubiläumsfolge 1200: PETERLOO – Die Verteidigung der Vorherrschaft – feat. Molo

Soldaten gehen 1819 gegen Zivilisten vor - Massenszene aus dem Film PETERLOO © 2018 Cornerstone Films

Britische Soldaten gehen 1819 gegen unbewaffnete Bürger vor – Massenszene aus dem Film PETERLOO © 2018 Cornerstone Films

Wir gehen zwei Jahrhunderte zurück: Grossbritannien 1819. Eine Kundgebung, geplant von der Manchester Patriotic Union Society. 80.000 unbewaffnete Menschen, die gegen die Getreidezölle und für eine Parlamentsreform demonstrieren. Wichtigster Sprecher: Henry Hunt. Doch die lokalen Behörden haben beschlossen, die Versammlung vor der Rede aufzulösen und die Anführer zu verhaften. Dafür waren 600 Husaren, 120 Yeomanry-Kavalleristen und zwei Sechspfünder-Kanonen sowie mehrere hundert Infanteristen und Polizisten bereitgestellt. 120 Kavalleristen drangen mit gezogenem Säbel auf die Menge ein, um zu den Rednern durchzudringen. Henry Hunt (im Film gespielt von Rory Kinnear) und mehrere andere Personen, darunter Journalisten, wurden verhaftet. Als die Menge Widerstand leistete, griffen die Husaren ein. Dabei wurden 15 Menschen getötet, darunter ein Baby, etwa 600 wurden verletzt von Säbelhieben und Schlagstöcken. Nach einer Viertelstunde war das Massaker vorbei. Und da niemand diese Geschichte auf die Leinwand bringen wollte, hat es 2018 Mike Leigh getan. Und da niemand den Film wahrgenommen hat, haben molosovsky und Thomas von SchönerDenken sich intensiv mit PETERLOO auseinandergesetzt.

Zitieren wir Ruth Rach vom Deutschlandfunk: “Der Tag ist heiß und sonnig. Zwischen 60.000 und 100.000 Menschen marschieren in Richtung St. Peters Field. Männer, Frauen, Kinder. Sie kommen aus ganz Nordengland. Die Leute tragen Sonntagskleidung. Den Marsch haben sie wochenlang eingeprobt, denn er soll wohl geordnet verlaufen. Und friedlich. Niemand ist bewaffnet. Musikbands begleiten sie auf dem Weg. Die Menschen tanzen, singen, tragen Spruchbänder. Sie wollen Parlamentsreformen, einen eigenen Abgeordneten in Westminster und niedrigere Getreidezölle. Dann rückt die Kavallerie vor, zusammen mit Infanteristen und Polizisten. Freiwillige Soldaten – von lokalen Fabrikanten und Geschäftsleuten finanziert – ziehen ihre Säbel, attackieren die Menschenmenge. Wahllos. Brutal. Sie wollen die Hauptredner verhaften. Die Kundgebung endet mit einem Blutbad. Mindestens 15 Menschen werden getötet, bis zu 700 verletzt.”

Die totgeschwiegene Geschichte von Peterloo führt Ungleichheit vor, brutalen Klassismus, eine den herrschenden Klassen dienende Justiz, die Paranoia des Konservatismus und die Geburt des Raubtierkapitalismus. Mike Leigh zeigt uns in seinem hochspannenden, sehr fein beobachtenden und perfekt inszenierten Film ein Schulfernsehen auf Speed, erklärt, bewegt und haut Molo und Thomas vom Stuhl – spätestens als der in Waterloo traumatisierte ehemalige Soldat Joseph (David Moorst) wieder auf britische Soldaten trifft. Ein episches, ein olympisches, ein maßstabsetzendes Meisterwerk.

Einen großen Dank an unseren wunderbaren und klugen Gast molosovsky für die spannende Diskussion und die gemeinsame Liebe zu diesem Meisterwerk! Bitte beachtet auch am Ende Molos Literaturhinweise zur Vertiefung der Hintergründe. Und Danke an Euch Zuhörer:innen für Eure Geduld und Aufmerksamkeit.

PETERLOO ist die zweite Folge einer geplanten gemeinsamen Trilogie mit molosovsky über Filme, die sich mit der politischen und sozialen Geschichte des 19. Jahrhunderts beschäftigen. In der ersten Folge widmeten wir uns dem herausragenden THE NIGHTINGALE der Meisterregisseurin Jennifer Kent.


Folge 1200
Molo und Thomas auf dem Schlachtfeld von PETERLOO
Länge: 02:26:46


Shownotes

00:00:00 Begrüßung zur Zeitreise
00:01:08 Warum PETERLOO? Mark Kermode ist schuld.
00:07:19 Gleiches Cinematic Universe wie THE NIGHTINGALE
00:09:30 Phantastische Metaphern für politische und gesellschaftliche Zustände
00:11:32 SPOILER-MARKE
00:12:11 Was wirklich am 16. August 1819 geschah.
00:15:32 Demokratiegeschichte, Ringen um Wirklichkeitseinrichtung. Jaqueline Ridings Peterloo-Sachbuch.
00:19:27 Text-Intro des Filmes. Nachwehen der Französischen Revolution und Überwindung Napoleons. Hobsbawms zwei Vulkane.
00:25:05 200 Jahre her und immer noch die gleichen systemischen Probleme: die wenigen, die haben und anschaffen; die Multitudes, die folgen sollen. Was wollen die Reformer?
00:29:20 Panik der herrschenden Klassen. Adam Zamoyski Phantome des Terrors, überall Verschwörungen und Dunkelmänner.
00:35:22 Das fortifizierte konservative Denken: Wie können wir erkennen, wer herrschen soll?
00:41:35 Kapitalismus als Begründung für Ungleichheit. Fehlende Land- und Wahlkreis-Reformen.
00:45:10 Zitat Ruth Rach für Deutschlandfunk. Filmbeginn Waterloo. Kontrast: Heimweg einfacher Soldat Joseph; Bonus für Kriegs-CEO Wellington.
00:55:10 Reich an gut recherierten O-Tönen der damiligen Zeit (siehe auch THE VVITCH und DEADWOOD). Früh-demokratische Mediengeschichte.
01:01:17 Filmische Mittel. Schulfernsehen auf Koks.
01:06:00 Flut- und Welle-Metapher: Revoluzzer, Magistrat und Reformer
01:15:20 Wenn politische Sprache nicht verstanden wird (siehe Shakespears Lost Years der Sketch History).
01:18:35 Mike Leigh und seine Arbeit mit Schauspieler:innen
01:26:20 Loblieb auf Nebenfigur Bessie (Bryony Miller). Die drei Ebenen des Films: Ideologische Strategie, politische Taktik, menschliche Sympathien und Abneigungen.
01:38:26 Lehrfilm zum Thema: Was ist hier ein Narrativ, was echte Motivation, was Werkzeug? — Loblieb auf Rory Kinnear (siehe MEN, James Bond und PENNY DREADFUL).
01:41:00 Gerichts-Szenen: klassistischer Horror, Anknüpfung an THE NIGHTINGALE.
01:48:25 Wie die Machtverhältnisse immer unterfüttert sind vom entsprechendem Bewusstsein: We are their moral superiours. Differenzierung des Diskurses auf Seiten der Machthaber.
01:51:45 Konsens-Suche: im Großen zwischen Herrschern und Beherrschten, innerhalb einer Arbeiterfamilie. Hoffnungs-Metapher: das Samenkorn. Die Rolle von Mutter Nelly.
01:57:45 Aussetzung bereits errungener Rechtsgüter, Beispiel: Habeas Corpus Bestimmung.
02:02:12 Systemisches Erzählen ermöglicht Darstellung sozialer Entropie: Unglückliche Verkettung menschlicher Fehlleistungen und -Einschätzungen.
02:10:30 Die Monster Demonstration auf dem St. Peter’s Field. Das Ende von Josephs Geschichte. Inszenierung des Massakers.
02:20:17 Fazit: extem gutes Ensemble, extrem gute Inszenierung erzählt extrem gute Geschichtsstunde. Olympisch: maßstabsetzendes Meisterwerk.
02:22:05 Frage an die Hörer: was wäre guter Abschluss der Kolonialgeschichts-Trio THE NIGHTINGALE und PETERLOO?
02:26:46 Ende


Literaturhinweise

Patrick N. Allitt:
»The Great Courses: The Conservative Tradition«

Eric Hobsbawm:
»Das Lange 19. Jahrhundert. Europäische Revolutionen 1749-1845«
(The Age of Revolution)

David Graeber, David Wengrow:
»Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit«
(The Dawn of Everything)

César Rendueles:
»Kanaillen-Kapitalismus. Eine literarische Reise durch die Geschichte der Marktwirtschaft«
(Capitalismo canalla. Una historia del capitalismo a través de la literatura)

Jaqueline Riding; Vorwort von Mike Leigh:
»Peterloo: The Story of the Manchester Massacre«

Adam Zamoyski:
»Phantome des Terrors. Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit 1789-1848«
(The Thread of Revolution and the Repression of Liberty 1789-1848)


Über unseren Gast

molosovsky (oder kurz Molo) denkt, übersetzt, zeichnet und ist DER Experte für den Großraum Phantastik. Er liest bergeweise schwierige Bücher – und versteht sie alle. Ganz klar einer unser Lieblingsgäste im Podcast.
Mastodon: @molosovsky@literatur.social
Twitter: twitter.com/molosovsky
Werke & Veröffentlichungen im neuen Blog:
https://molochronikhome.wordpress.com/ueber/werke-veroeffentlichungen/
Altes Blog (nur noch Archiv): https://molochronik.antville.org/


Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: SchönerDenken (Direkter Download der Episode über rechte Maustaste)
Bild: © 2018 Cornerstone Films
Musik von Johannes Klan


Peterloo
UK 2018, 154 Min., Regie/Drehbuch: Mike Leigh


Der Trailer

Mark Kermode über PETERLOO


Andere Meinung

„Herausgekommen ist ein großes Zeitporträt, das keine einzelne Figur in den Mittelpunkt rückt, sondern das Zusammenspiel vieler Akteure mit dem ganzen Pathos eines Historiendramas vereint. In kurzen Strichen schafft Leigh es, selbst jenen Demonstranten auf dem St. Peter’s Field eine Hintergrundgeschichte, Motivation und Tiefe zu geben, sodass die Soldaten nicht einfach nur eine Menschenmasse niederreiten, sondern jedes einzelne dieser angerissenen Schicksale dabei auslöschen. Bis man am Ende noch einmal den jungen Joseph sieht, der für die Demonstration wieder seine Soldatenuniform angelegt hat, denn das sind die besten Kleider, die er besitzt. Er steht abermals in einer wirbelnden Wolke aus Staub und Qualm und um ihn herum fallen die Leiber zu Boden. Doch diesmal ist es seine eigene Regierung, die auf die Menschen schießt. Wenn aus all den großen Eindrücken dieses Films einer bestehenden bleibt, dann dieser.“
Maria Wiesner für kino-zeit