Folge 1103
Molo und Thomas durchleben den Schrecken von Jennifer Kents THE NIGHTINGALE
Länge: 02:02:28
Jennifer Kent hätte nach ihrem Debüt-Hit THE BABADOOK (2014) flott eines von vielen an sie herangetragenen Drehbücher anpacken können, schuftete aber lieber vier Jahre, um ein eigenes Projekt zu stemmen. Mit THE NIGHTINGALE (2018) führt sie uns am Beispiel der Aktivitäten des Britischen Weltreichs in Tasmanien – damals noch Van-Diemens-Land – vor, wie Europäer im 19. Jahrhundert „die Exoten zivilisierten“. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die irische Strafgefangene Clare (Aisling Franciosi), ihr ehrgeiziger Dienstherr Lieutenant Hawkins (Sam Claflin) und der Aborigine Billy (Baykali Ganambarr).
Was als Rache-Geschichte beginnt, entwickelt sich zu einer tückischen Verfolgungsjagd durch die Wildnis, und mündet letztendlich in einer überraschend poetischen Geschichte über die Solidarisierung von Aussenseitern, die vom strengen Ordnungssystem zum minderen Anderen abgestempelt wurden. Trigger-Warnung ist angebracht, denn neben meditativen und zärtlichen Aspekten setzt dieser Ab-18-Film seine Zuschauer der Brutalität – Vergewaltigung, Kindsmord, Genozid, Verstümmelung, Trauma, Alpträume – des Black Wars des Jahres 1825 aus.
Gast Molo (zum ersten Mal dabei!) und Thomas werden von der Wucht des Films umgerissen. Jennifer Kent erzählt viel mehr als eine simple Rape-Revenge-Geschichte. Sie führt uns in die Hölle der Black Wars, der Kriege zwischen den Ureinwohnern und der englischen Eroberer, und zeigt uns sehr authentisch die Brutalität und die Machtstrukturen des englischen Militärs. Nicht nur die Ausbeutung und Ausrottung der einheimischen Bevölkerung, auch die systemische Gewalt gegen Frauen steht im Mittelpunkt des Films. Molo und Thomas müssen den eindrücklichen Schrecken, die Gewalt und die Hoffnungslosigkeit in einem therapeutischen Nachgespräch verdauen und bald geht der Austausch über in eine Aufarbeitung von Kolonialismus und den Zivilisationsbrüchen durch die herrschenden weißen Männer, die sich trotz ihrer ungeheuren Gräueltaten für den Gipfel der menschlichen Entwicklung halten.
Darüber wird in der Episode aber auch nicht vergessen, wie großartig Jennifer Kent ihre Figuren entwickelt, vor allem die Beziehung zwischen Clare und Billy, wie authentisch der Film konzipiert und umgesetzt ist, warum Kent auf das 4:3-Format setzt und grundsätzlich: Was für ein großartiger und unbedingt sehenswerter Film das ist! Im Laufe der zweistündigen Episode werden Molo und Thomas immer wieder philosophisch, politisch und manchmal auch wütend über systemische Gewalt gegen Frauen, entmenschlichten Rassismus und die Verbrechen der eigenen europäischen Kultur. Bitte beachtet auch am Ende Molos Literaturhinweise zur Vertiefung der Hintergründe. Danke an Molo für die spannende Diskussion und Euch Zuhörer:innen für Eure Geduld und Aufmerksamkeit.
Shownotes
00:00:00 Begrüßung und Einordnung des Films
00:03:46 Der Black War: Völkermord in Tasmanien
00:06:55 Die Authentizität des Films und Rekonstruktion der Sprache
00:09:22 Ein Rachefilm, nah an der (historischen) Realität
00:10:47 Die Handlung – Die verweigerte Freiheit
00:18:33 Klassischer Rachefilm? Eigentlich geht es um systemische Gewalt
00:21:57 Die gleiche, traurige Geschichte überall seit den ersten Missionaren
00:25:46 Rechtsstaat? Wir glauben nur, wir seien zivilisiert
00:30:55 Der Establishing Shot: die kleine, heilige Familie
00:33:00 Frauen als rechtlose Beute des männlichen Mobs
00:38:19 Der gute Mensch von Tasmanien
00:44:59 Episodisches Erzählen der Verfolgungsjagd (der zweite Akt)
00:50:21 Die Sprache, Geräusche, Musik – Schimpfen auf Gälisch
00:56:19 Die Nachtigall und der schwarze Vogel: Claire und Billy
01:03:40 Fusioniert: zugängliches Genre und subtiles Arthouse
01:07:44 Das Monster Hawkins
01:17:23 THE NIGHTINGALE im Kontext anderer Filme von Frauen
01:29:29 Regisseurin, Drehbuchautorin, Produzentin
01:33:33 Zivilisationsbruch als System: Thomas regt sich auf
01:39:39 Der Kampf im Wald
01:45:01 Eulenspiegelei: Onkel Charlies Widerstand
01:47:00 Keine Predigt über das allgegenwärtige Böse
01:51:04 „a real perspective“: Jennifer Kent hegt die Schönheit der Bilder ein
01:58:55 Ausatmen am Ende des Films
01:60:14 Verabschiedung
Literaturhinweise
Robert Bartlett:
„The Making of Europe: Conquest, Colonization and Cultural Change 950 – 1350“
(1993) /
Dt.: „Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonialisierung und kultureller Wandel, 950-1350“
(1998)
Karlheinz Deschner:
„Kriminalgeschichte des Christentums“
(Zehn Bände von 1986-2013)
Hans Peter Duerr:
„Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation“
(1978)
Jan Philipp Reemtsma:
„Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne“
(2008)
James C. Scott:
„Against the Grain. A Deep History of the Earliest States“
(2017)
Dt: „Die Mühlen der Zivilisation: eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten“
(2019)
Andrea Wulf:
„The Invention of Nature. How Alexander Von Humboldt Revolutionized Our World“
(2015)
Dt.: „Alexander von Humboldt. Die Erfindung der Natur“
(2016)
Matt Ruff:
„Set This House In Order. A Romance of Souls“
(2003)
Dt.: „Ich und die anderen“
(2004)
Durch den Film wurde Molo aufmerksam auf
Nicholas Clements:
„The Black War: Fear, Sex and Resistance in Tasmania“
(2014)
Und als Bonus:
Molos Notizen zum Film
Über unseren Gast
molosovsky (oder kurz Molo) sorgt für Sicherheit und ist nebenbei Übersetzer, Zeichner und unser Lieblingsexperte für den Großraum Phantastik.
Er liest bergeweise schwierige Bücher – und versteht sie alle. Ab sofort einer unser Lieblingsgäste im Podcast.
Twitter: twitter.com/molosovsky
Werke & Veröffentlichungen im neuen Blog:
https://molochronikhome.wordpress.com/ueber/werke-veroeffentlichungen/
Altes Blog (nur noch Archiv): https://molochronik.antville.org/
Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: SchönerDenken (Direkter Download der Episode über rechte Maustaste)
Musik von Johannes Klan
The Nightingale
Australien 2018, 136 Min., Regie/Drehbuch: Jennifer Kent
Der Trailer
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