Folge 1072
Johanna und Thomas auf den Spuren einer verloren wirkenden, südkoreanischen Generation in BURNING
Länge: 26:16
„Die Welt ist ein Rätsel“, erklärt Jongsu. Der junge Südkoreaner hat einen Universitätsabschluss in Creative Writing aber lebt von Gelegenheitsjobs, während er versucht einen ersten Roman zu schreiben. Eine Perspektive hat er wie die allermeisten seiner Generation nicht. Das gilt auch für die junge, sehr hübsche Haemi – sie kommt aus dem gleichen Dorf und als die beiden sich treffen, kommt es zu einer unbeholfenen kurzen Affäre. Die dritte Figur in Lee Chang-dongs Film BURNING ist Ben, er ist der neue Mann an Haemis Seite, jung, attraktiv, sehr reich und gelangweilt.
Durch Ben kommen Haemi und Jongsu in Berührung mit Bens ebenfalls reichen Freunden und sind umso mehr darauf gestoßen, dass ihr Leben so nicht aussehen wird. Haemi ist eine chronische Lügnerin und macht Schulden und Jongsu lebt im verlassenen und verwahrlosten Elternhaus, auch seine Eltern gescheitert. Ben, der sein perfektes Leben lebt, fühlt sich nur lebendig, wenn er Gewächshäuser anzündet.
Anderthalb Stunden folgen wir diesen drei jungen Menschen, die fühlen, aber – wie wir alle – nicht verstehen, was eigentlich in dieser Welt schief läuft. Sie alle haben den „großen Hunger“ nach einem Sinn im Leben. Als Zuschauer entdecken wir langsam die Wut, Verzweiflung und Leere in diesen drei Charakteren und treiben mit ihnen durch das Südkorea der Gegenwart bis zum Höhepunkt des Films – einem gemeinsamen Abend vor Jongsus Haus, den Haemi krönt mit einem Tanz im Sonnenuntergang zu den hypnotischen Trompetenklängen von Miles Davis. Eine hypnotische Sogwirkung haben auch die Filmbilder, manchmal kühle, manchmal poetische, oft lange Einstellungen.
Nach anderthalb Stunden dreht sich der Film: Haemi verschwindet. Hat Ben etwas mit dem Verschwinden zu tun? Jongsu verdächtigt ihn, findet Indizien, sucht Haemi, sucht abgebrannte Gewächshäuser, sucht die Wahrheit über Haemi, über Ben und über sich selbst. Die Welt aber bleibt ein Rätsel, die Kunst Lee Chang-dongs ist es, Fragen zu stellen. Die Suche nach den Antworten wird die Zuschauer noch eine Weile beschäftigen.
Am Mikrofon direkt nach dem Film schildern Johanna und Thomas ihren ersten Eindruck und diskutieren über klare Ansagen des Regisseurs und eine Gesellschaftskritik, die allgegenwärtig ist aber genauso im Hintergrund bleibt wie die nordkoreanischen Propaganda-Lautsprecherdurchsagen hinter Jongsus Elternhaus. Die beiden arbeiten sich an der Vielschichtigkeit des Films ab und sind sich einig: Ein überraschend komplexer Film, ein überraschend guter Film mit einem unerwarteten Finale.