Folge 1046
Johanna, Götz und Thomas feiern THE SISTERS BROTHERS
Länge 44:59
Das Western-Genre wird immer wieder neu erfunden – mit ganz unterschiedlichem Erfolg. Dem französischen Regisseur Jacques Audiard ist mit THE SISTERS BROTHERS ein ganz großer Wurf gelungen. Es geht um die großen Themen: Gier, Gewalt, Liebe, Hoffnung, kleine und große Utopien. Nachdem Johanna und Götz den Film unüberhörbar gelobt hatten, hat Thomas zu einer Heimkino-Session geladen. Im Podcast danach wird über die starke Dramaturgie, die Dialoge, die Kameraarbeit, die Musik und die herausragenden Darsteller geschwärmt. Und über die vielen besonderen Momente – so ergreifend, wenn eine verunsicherte Prostituierte den Traum einer Liebe heraufbeschwören soll, brennende Pferde über die Leinwand jagen und unsichtbare Revolverkämpfe ausgetragen werden. Ein Film, der auf so vielen Ebenen ein Meisterwerk ist – vielleicht der größte Western seit HEAVENS GATE.
Noch viel genauer erklärt es Götz in seiner Reihe Tausendundein Film – er beschreibt den Film zutreffend als Neubeseelung des Westerns durch den europäischen Autorenfilm. Bitte weiterlesen!
Tausendundein Film: Götz bringt uns besondere Filme nah.
Was treiben die Menschen da auf der Erde? Was ist das für eine Spezies? Die Kamera nimmt einige Male in Jacques Audiards Western „The Sisters Brothers“ die Position eines fernen Beobachters ein, wird gleichsam zum Auge eines Kojoten, eines Pumas, eines Adlers, der auf einem Felsen kauert und dem Aufblitzen der Schüsse in der weiten nächtlichen Landschaft zuschaut. Doch jedes Tier ergriffe sofort die Flucht vor den Gemetzeln, die die beiden Brüder mit Namen Sisters permanent anrichten. Sie verdingen sich als Killer, arbeiten für einen ominösen „Commodore“, der in einem prächtigen, weißen Haus residiert, feinste Anzüge trägt und dessen maritimes Wappen, das an der Fassade prangt, auf geradezu königliche Macht und einen geheimnisvollen Einfluss in vielen Angelegenheiten des Westens schließen lässt.
Eli und Charlie Sisters sollen für den Commodore (Rutger Hauer) den Goldsucher Hermann Kermit Warm aufspüren, der sich rühmt, auf Basis einer chemischen Formel eine Mischung brauen zu können, mit der sich Gold in einem Flussbett sichtbar machen lässt. Das mühsame Auswaschen würde entfallen. Eli und Charlie sollen von Warm (Riz Ahmed) die Formel erpressen, natürlich mit Gewalt, wenn es sein muss. Das ist ihr Auftrag, denn der Commodore will seinen Reichtum schützen und vor allem mehren. Ebenfalls auf der Suche nach Warm ist der Detektiv John Morris (Jake Gyllenhaal), ein feinsinniger, melancholischer Charakter, der Briefe schreibt und Tagebuch führt.
Der Film spielt auf der historischen Grenze, wo aus Barbarei Zivilisation werden soll und aus Zivilisation wieder Barbarei werden kann. Sieben Jahre vor der Staatsgründung ist Oregon im Jahr 1851 noch ein anarchisch brodelnder, gesetzloser Ort, kein Sheriff tritt den Brüdern auf ihrem blutigen Weg entgegen. Und im kaum ein Jahr alten Kalifornien ist der Goldrausch auf seinem Höhepunkt. An den Flecken in der Wildnis, wo sich Siedler und Abenteurer zusammengefunden haben, gilt das Recht des Stärkeren. In einem Kaff hat sich eine androgyne Lady zur Herrscherin gekürt – ihr Name prangt als Marke auf allem – und die in ihrem Saloon und Bordell versammelten Cowboys und Glücksritter tanzen wie hörige, debile Jünger einer Sekte zu dissonantem Geklimper im Kreis, eine düstere Karikatur der Bräuche der Ureinwohner, die in diesem Western längst verschwunden sind, und auch ein beiläufiges Zitat der willenlos vorwärts ruckenden Arbeiter aus Fritz Langs „Metropolis“.
Den deutschen Stummfilm nannte Audiard oft in Interviews als eines seiner Vorbilder, auch Murnaus „Faust“, eine Figur, an die Warms skurrile Alchimie anknüpft. „Ein Bilderbuch“ nennt Audiard seinen Film, der „wie von Kindern gesehen“ inszeniert sei. In Frankreich ein gefeierter Regisseur, Gewinner der „Goldenen Palme“ 2015 für „Dämonen und Wunder“, ist Audiard in Deutschland überraschend wenig bekannt. 1952 geboren, war er von Jugend an mit dem Filmgeschäft vertraut, denn sein Vater Michel war Drehbuchautor, eine lange Reihe von Klassikern des französischen Unterhaltungskinos ist mit seinem Namen verbunden: Von „Taxi nach Tobruk“ über „Ein Affe im Winter“ bis „Der Bulle“ oder „Der Profi“.
Nichts läuft nach Plan für die Brüder, denn Morris, ihr Kontaktmann, freundet sich mit Warm an, fasziniert von dessen Utopien, anti-kapitalistischen Träumen von einer idealen Gesellschaft, die er irgendwo bei Dallas (!) gründen will. Das Gold soll ihr Startkapital sein für „eine Gesellschaft ohne Gier, die sich nicht dem Profit, sondern der Spiritualität widmet“, wie Warm dem Partner erklärt. Dass dann sogar alle drei Jäger gemeinsam mit dem Schwärmer Warm auf Goldsuche gehen, kann dem Commodore gar nicht gefallen. Die Assoziation liegt nahe, in ihnen vier Start-up-Unternehmer im Silicon Valley zu sehen, die von einer besseren Welt träumen.
Was Audiard mit „The Sisters Brothers“ gelingt, ist eine poetische Beseelung des Genres aus dem Geist des europäischen Autorenfilms. Als Anknüpfungspunkt im US-Kino könnte man die Western von Robert Altman und Arthur Penn aus den 1970er Jahren nennen, Western, die auch schon mit der Sezierung des Mythos, politischer Haltung und literarischen Erzählweisen neue Wege beschritten hatten.
Unterstützt von seiner langjährigen Cutterin Juliette Welfling (die am häufigsten mit dem César ausgezeichnete Editorin Frankreichs), dem belgischen Kameramann Benoit Debie, der zuletzt auch zwei Mal für Wim Wenders arbeitete (belohnt mit einem César für den hier vorgestellten Film) und der subtilen, sinnträchtigen Musik des fabelhaften Filmkomponisten Alexandre Desplat („Syriana“, „Grand Budapest Hotel“, „Shape of Water“) braut Audiard eine Tinktur aus alteuropäischem Stilwillen, die das Gold des Genres glänzen lässt. Audiard scheucht die Stilisierungen des klassischen Westerns, seine Abstraktionen, durch die Vordertür hinaus, um für historische Genauigkeit, Realismus und Alltägliches wie Zähneputzen und Haare schneiden Platz zu schaffen, doch durch die Hintertür lässt er sie, ins Poetisch-Märchenhafte gewandelt, zugleich wieder herein.
Grausame, drastische Momente werden wohl dosiert eingesetzt; meist rückt das Geschehen aber sogar in die Distanz, wenn es ans Schießen geht. Charlie (Joaquin Phoenix) ist buchstäblich eine Killermaschine, dessen Arm selbst dann noch wild zuckt, wenn er unmöglich mehr eine Waffe halten kann. Zugleich ist er aber ein zutiefst verletzter, traumatisierter Mensch, der einst als Jugendlicher den gewalttätigen, alkoholsüchtigen Vater töten musste und dessen Blut in seinen Adern strömen fühlt. Sein Bruder Eli, in anderer Weise ungelenk, verklemmt, eine tapsig-gutmütige John C. Reilly-Figur eben, hat Momente der Sanftmut – (wenn er auch im Kampf nicht minder zuverlässig ist), so als gebe es in ihm noch einen unversehrten, reinen, unschuldigen Kern, der bei Charlie längst zerfressen wurde.
Der Film nimmt sich viel Zeit für das psychologische Ringen des ungleichen Brüderpaars. Zu Beginn ist Eli eher in der vernünftigen Walter Brennan- oder Millard Mitchell-Position und Charlie der von Furien verfolgte James Stewart aus den Anthony Mann-Western. Doch im Laufe des Films rückt Eli auf und wird mehr und mehr zur Hauptfigur. Eli führt einen roten Schal mit sich, den er immer wieder zärtlich faltet und an dem er vor dem Einschlafen riecht, ein Geschenk einer von ihm geliebten Frau, einer Schullehrerin.
In einer der stärksten Szenen des Films will er die abwesende Geliebte heraufbeschwören, in dem er den Augenblick der Abschiedsgabe mit einer Prostituierten wiederholt, die von so viel ungewohnter Zärtlichkeit überfordert ist. Empathisch reagiert Eli auch auf die schwere Verletzung seines Pferdes Tub, eine Wunde am Auge, die nichts anderes meint als: Ihr müsst Euer Leben ändern. Und so geht es irgendwann nur noch um die Suche zweier Outlaws nach Ruhe und Frieden. Doch die Privatarmee des Commodore ist Eli und Charlie so hartnäckig auf den Fersen wie einst die Polizeieskorte Butch Cassidy und Sundance Kid in George Roy Hills „Zwei Banditen“.
„Charlie, when you kill a man, you end up with his father or his friends on your tail. It usually ends badly.“
Audiard erzählt eine Geschichte, wie es lange kein Western mehr vermochte. Das Drehbuch beruht auf dem gleichnamigen Roman des Kanadiers Patrick deWitt. Reilly hatte die Rechte gekauft und war mit dem Stoff auf Audiard zugegangen, den das Western-Genre nach eigenen Worten gar nicht so sehr fasziniert. Wie sagte aber einst Jean Gabin auf die Frage, was man für einen guten Film brauche: „Erstens eine gute Geschichte, zweitens eine gute Geschichte und drittens eine gute Geschichte.“ Und so kommt am Ende ein neuer Western-Klassiker heraus.
Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: SchönerDenken (Direkter Download der Episode über rechte Maustaste)
USA 2018, 121 Min., Regie: Jacques Audiard
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