UNRUH: Maximal entschleunigtes Kino

Clara Gostynski als Uhrmacherin Josephine Gräbli in UNRUH von Cyril Schäublin © GRANDFILM 2020

Clara Gostynski als Uhrmacherin Josephine Gräbli in UNRUH von Cyril Schäublin © GRANDFILM 2022


Anarchie bedeutet, eine herrschende Ordnung in Frage zu stellen, denn Herrschaft ist keine Legitimation. Und wenn die Ordnung keinen Sinn macht, wird sie nicht als Ordnung akzeptiert. Für die Uhrmacherinnen 1877 im Berner Jura bedeutet es, eine Krankenversicherung für Frauen und Kinder selbstverwaltet aufzubauen, es bedeutet, den gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu fordern. Für den russischen Anarchisten Pyotr Kropotkin bedeutet es, von Behörden und Firmen komplett unabhängig eine sehr genaue Karte vom Berner Jura anzufertigen, open street map sozusagen. Dass diese Karte aufgehängt wird, ist der Action-Moment des Films, dass Josephine Gräbli erklärt, wie eine Unruhe in einer Uhr funktioniert, ist sozusagen der erotische Höhepunkt dieses Schweizer Films, der zweite Film von Cyril Schäublin. Sein Konzept für UNRUH ist ebenfalls anarchistisch. Er beansprucht nicht die Deutungshoheit über die Geschichte als historische Wahrheit und er beansprucht nicht die Deutungshoheit über den Blick der Zuschauer. Er lässt uns diese Freiheit, gibt uns Totalen dieser Welt, in der die handelnden Figuren klein und oft am Rande gesucht und gefunden werden müssen. Schäublin verzichtet auf ein Narrativ, er gibt uns Mosaikstücke, einzelne Szenen, einzelne Dialoge, aus denen sich eine Idee abzeichnet. Die Idee, dass es eine Welt geben könnte, die vernünftiger und gerechter wäre als der Kapitalismus und freier als der Sozialismus. Johanna und Thomas haben im Palatin in Mainz eine Aufführung gesehen, die durch die Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung freien Eintritt hatte – in Anwesenheit des Regisseurs, dessen Urgroßmütter selbst Uhrmacherinnen in der Schweiz waren.


Folge 1178
Unser erster Eindruck von UNRUH
Länge: 11:03


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Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: SchönerDenken
Bild: © GRANDFILM 2022
Musik: Johannes Klan


Unruh
SUI 2022, 93 Min., Buch und Regie: Cyril Schäublin


WICHTIG: Wir haben UNRUH im Programmkino Capitol&Palatin in Mainz gesehen, sehr viele SchönerDenken-Episoden zu anspruchsvolleren Filmen sind vor diesem Programmkino aufgezeichnet worden. Dieses Kino ist die Grundlage der Kinokultur in Mainz: Das Programm ist hervorragend kuratiert – besondere Filme aus vielen unterschiedlichen Genres und Nationen, immer wieder auch in Originalsprache, dazu viele Veranstaltungen. Dem Programmkino Capitol&Palatin droht durch ein Gebäudekauf durch ein großes Immobilienunternehmen die Schließung. Mehr Informationen gibt es hier und hier. Eine Petition zum Erhalt dieses wichtigen Kinos gibt es hier. Bitte unterstützen!


Andere Meinung

„Schäublin hat nicht Szenen geschaffen, die eine klar umrissene Handlung vorantreiben, sondern eine modellhafte Filmwelt. Die meisten Ereignisse werden behandelt, als wäre man zufällig über sie gestolpert. Man lauscht und schaut wie ein(e) Voyeur*in. Oder wie ein(e) Passant*in, im Vorübergehen hier und da ein paar Sätze aufschnappend. Die Kamera nimmt in „Unruh“ nie das Offensichtliche in den Blick. Sie hält Distanz und platziert Figuren winzig am untersten Bildrand. Die vielen Panorama-Aufnahmen heben selten hervor, welche der Figuren gerade spricht. Von den unzähligen Amateur*innen, die historische Arbeitsverhältnisse nachstellen, drängt selten jemand weit in den Vordergrund. Die Gespräche führen sich also selbst, sie liegen in der Luft und hängen nicht an Einzelpersonen. Es geht um Menschen, aber eben auch um Ideen. Um Individuen, aber eben auch um Massen und Bewegungen. Es sind demokratische Bilder, die das Publikum für sich selbst ordnen darf.“
Lucas Barwenczik für Filmstarts.de


Trailer