HOLY SPIDER: Ein Mörder wird als Held gefeiert

Eine Frau mit schwarzem Kopftuch schaut ernst Richtung Betrachter - Sahra Amir Ebrahimi als Journalistin Arezu Rahimi in Asi Abbasis Film HOLY SPIDER © 2022 Alamode Film

Sahra Amir Ebrahimi als Journalistin Arezu Rahimi in Asi Abbasis Film HOLY SPIDER © 2022 Alamode Film


In einer Gesellschaft, in der Frauen nur eine Lebensberechtigung haben, wenn sie die Gesetze der Männer ohne Abweichung befolgen, in einer solchen Gesellschaft wird einem psychopathischen Serienmörder applaudiert, der Prostituierte ermordert. In der als heilig bezeichneten Stadt Mashhad ist Saeed in der Nacht mit seinem Motorrad unterwegs und lauert auf seine Opfer. Die Journalistin Rahimi (beeindruckend: Sahra Amir Ebrahimi) will die Wahrheit über den Spinnenmörder herausfinden und erkennt schnell, dass die Polizei keine große Hilfe ist. Auch bei den Polizisten gelten die Opfer nur als wertlose Junkies und Huren. Als „wertlos“ bezeichnet ein Polizist auch die Journalistin, als er sie in ihrem Hotelzimmer belästigt. Rahimi geht als Lockvogel selbst auf die Straße, bis der Spinnenmörder tatsächlich mit seinem Motorrad vor ihr auftaucht …

Viel stärker als die Thrillerhandlung brennen sich die Szenen ein, die den iranischen Gottesstaat als frauenverachtendes Unrechtsregime zeigen: Frauen dürfen für sich allein kein Hotelzimmer buchen, sie dürfen nicht ohne Kopftuch gesehen werden und wenn sie als Journalistin arbeiten, sind sie ständig Anfeindungen ausgesetzt. Intensiv wird Abbasis Film nach der Festnahme des 16-fachen Mörders: religiöse Gruppen unterstützen den Mörder offen, es gibt Demonstrationen, die ihn als Helden feiern und seine Freilassung fordern, auch viele Menschen in der Nachbarschaft solidarisieren sich mit dem Mörder. Saeed wird sogar eine Befreiung versprochen, nachdem er zum Tode verurteilt wurde.

Abbasis Film beruhrt auf einer wahren Begebenheit und er beschönigt nichts, er zeigt die Verzweiflung und Drogensucht der Prostituierten, er zeigt unangenehm ausführlich die Banalität des Mörders, der sich selbst einredet, einen göttlichen Auftrag zu erfüllen. Die Stadt ist ebenso schmucklos wie die einfache Wohnung, in die Saeed seine Opfer lockt, um sie dann mit ihrem eigenen Kopftuch zu erdrosseln. Nur das nächtliche Mashhad glitzert, aber wenn man genau hinschaut, zeigt uns Abbasi dabei das Netz, das der Spinnenmörder über die Stadt gelegt hat.

Das ernste Thema und die sehr starken Darsteller lenken davon ab, wie sorgfältig und atmosphärisch dicht die Inszenierung ist – und wie großartig der Soundtrack von Martin Dirkov und das Sounddesign sind. Im Podcast direkt nach dem Kino sprechen Johanna und Thomas über die intensive Darstellung des religiös-fanatischen Mörders, über die Situation der Frauen im Iran, über die Unterstützer des Mörders und über ein Bild, das Johanna nicht vergessen wird: Der Mörder auf dem Motorrad, auf dem Rücksitz das bereits ermordete Opfer – mit einem Strick an den Rücken des Mörders gebunden.

„Ich komme aus dem Iran. Dort bin ich geboren und aufgewachsen. Ich muss keine Puppenhausversion des Iran machen. Der Ort, den wir betrachten, Maschhad, ist wie viele dieser größeren Metropolen im Nahen Osten. Sie haben sich in unscheinbare Industriestädte verwandelt, halb Favela, halb Betonwüste mit einigen historischen Gebäuden […]. Sie finden diese Orte in der Türkei, in Jordanien und wahrscheinlich an vielen anderen Orten.“
Regisseur Ali Abbasi über Mashhad

Von Ali Abbasi haben Johanna und Thomas bereits den sehr sehenswerten Film BORDER besprochen.


Folge 1180
Unser erster Eindruck von HOLY SPIDER direkt nach dem Kino
Länge: 15:51


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Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: SchönerDenken
Bild: © 2022 Alamode Film
Musik: Johannes Klan


Holy Spider
DK 2022, 119 Min., Regie: Ali Abbasi


WICHTIG: Wir haben HOLY SPIDER im Programmkino Capitol&Palatin in Mainz gesehen, sehr viele SchönerDenken-Episoden zu anspruchsvolleren Filmen sind vor diesem Programmkino aufgezeichnet worden. Dieses Kino ist die Grundlage der Kinokultur in Mainz: Das Programm ist hervorragend kuratiert – besondere Filme aus vielen unterschiedlichen Genres und Nationen, immer wieder auch in Originalsprache, dazu viele Veranstaltungen. Dem Programmkino Capitol&Palatin droht durch ein Gebäudekauf durch ein großes Immobilienunternehmen die Schließung. Mehr Informationen gibt es hier und hier. Eine Petition zum Erhalt dieses wichtigen Kinos gibt es hier. Bitte unterstützen!


Andere Meinungen

„Als wollte er sich dem filmi­schen Refe­renz­system entziehen – es würde seinen Film wieder abstrakter machen – , insze­niert Ali Abbasi auffällig explizite Bilder. Die Armut der Stadt (gefilmt wurde im jorda­ni­schen Amman) wird in jeder Straßen­ecke und in jedem Wohnraum sichtbar. Der Putz bröckelt ab, und selbst für die iranische Gepflo­gen­heit, direkt auf dem Boden zu sitzen, gibt es zu wenig Möbel, keine Decken und Kissen, nur die unbedingt notwen­digen Teppiche. Die Frauen wiederum zeigen sich für iranische Verhält­nisse unerhört körper­lich und freizügig: Sie rauchen – je nach gesell­schaft­li­chen Stand Ziga­retten oder Opium –, zeigen ihr Haar, sind nackt, haben oder wollen Sex, als Ehefrauen mit ihrem Mann oder als Prosti­tu­ierte mit ihrem Freier. Und es gibt Sex-Talk. Ständig werden die Frauen verbal belästigt, vor allem Rahimi, die als Jour­na­listin aus Teheran nach Maschhad kommt, um über die Seri­en­morde zu berichten. Die Expli­zit­heit ist program­ma­tisch, Ali Abbas findet in ihr zu einer Poeto­logie des Unver­hüllten und Unver­bor­genen.“
Dunja Bialas für artechock

„Abbasi hat einen intelligenten und packenden Thriller aus dem Stoff gemacht. „Meine Absicht war es nicht, einen Serienmörderfilm zu drehen“, sagt der Regisseur. Er habe vielmehr einen Film über eine „Serienmörder-Gesellschaft“ machen wollen. „Holy Spider“ thematisiere den tief verwurzelter Hass auf Frauen, der nicht unbedingt religiös oder politisch motiviert sei, sondern einen kulturellen Ursprung habe. Insofern wirkt der Film wie ein direkter Kommentar zu den derzeitigen Ereignissen im Iran, den Demonstrationen und Polizeiaktionen, Protesten und Hinrichtungen, die nach dem Tod der jungen Frau Jina Mahsa Amini auf einer Polizeistation im September des letzten Jahres begannen.“
Jürgen Kiontke für filmgazette

„Gleich zu Beginn sehen wir die unverheiratete Journalistin Rahimi (Zar Amir-Ebrahimi), die neu in Mashhad ankommt und bereits bei etwas scheinbar Normalem, dem Buchen eines Hotelzimmers als Alleinstehende scheitert, bis es ihr schließlich doch mit Hinweis auf ihren Beruf gelingt. Es ist nicht das einzige Hindernis, das ihr auf der Suche nach der Wahrheit begegnen wird– und doch erscheinen diese Schwierigkeiten als vergleichsweise gering gegenüber dem alltäglichen Überlebenskampf ihrer Geschlechtsgenossinnen, die gezwungen sind, sich auf den Straßen der Stadt zu prostituieren, um sich und ihren Familien den Lebensunterhalt zu sichern. Denn für sie interessiert sich niemand, die Polizei schon gar nicht. Und je länger der Film andauert, desto mehr gewinnt man den Eindruck, dass zumindest Teile der Bevölkerung mit dem Mörder sympathisieren. Und man kann durchaus vermuten, dass dies teilweise die gleichen Männer sind, die im Dunkel der Nacht die Dienste der Prostituierten in Anspruch nehmen.“
Joachim Kurz, kino-zeit.de

„Selten wurde ein Serienmörder so gesellschaftsfähig gemacht. Es schockiert, welche Ablehnung die Opfer und welche Zuneigung der Täter bekommt. Ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft, von seiner Familie geliebt, von der Gesellschaft verehrt. Besonders spannend ist dabei auch, wie gut es der Film schafft, fast schon so etwas wie Sympathie für den Täter zu kreieren. Natürlich sind das immer nur einzelne Momente, bis man sich wieder im Klaren darüber ist, was hier gerade passiert, aber es zeigt sehr beeindruckend, wie schnell wir bereit sind, etwas hinzunehmen, wenn es immer wieder heißt, es sei doch okay.“
Hendrik Warnke für film-rezensionen.de


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